Ausgeflippt


oder die Zeugung des Heiligen Joshua von Missouri

Es ist drei Uhr fünfundvierzig früh. Der Morgen des 2. Mai 1945.
Während ich über die Uhrzeit eine verbindliche Aussage machen kann – die Quarzuhr mit digitaler Anzeige war in meinem Besitz verblieben - kenne ich das Datum nur vom Hörensagen und habe meine begründeten Zweifel.
Kein Einwand gegen den zweiten Mai.
Die entsprechenden Ziffern '02-05' erscheinen per Knopfdruck auch auf meiner Uhr – ferner die Ortszeiten von New York, Moskau, Delhi, Tokio.
Es ist eine Seiko-Uhr, die ich letztes Jahr in Singapur billig erstanden habe.
Sie hat nur einen Nachteil. Die Jahreszahl ist nicht einprogrammiert. Das Jahr 1945 steht daher als zweifelhafte Behauptung drohend im Raum.
Ich schreibe diese Zeilen im Schein einer flackernden Kerze und mit klammen Fingern.
Hinter mir sitzt ein Uniformierter. Die geladene und entsicherte Maschinenpistole im Anschlag.
Sein russverschmiertes Gesicht ist unrasiert und glänzt verschwitzt unter diesem alten, grauen Stahlhelm, den ich nur aus amerikanischen Kriegsfilmen kenne, in denen die Deutschen keine besonders guten Rollen spielen.
Er wirkt sehr heruntergekommen, dieser deutsche Landser, und er hat es sich seit einer halben Stunde abgewöhnt zu lächeln, wenn ich ihn ansehe. Er nimmt seinen Job ziemlich ernst.
Er hat den Befehl erhalten, mich beim geringsten Anzeichen einer Flucht über den Haufen zu schiessen.
Er will diesen Krieg offenbar immer noch gewinnen, und anscheinend bin ich dabei eine Art Sicherheitsrisiko.
Dabei weiss ich es aus verlässlichen Quellen, aus Geschichtsbüchern, aus den Erzählungen meiner Eltern und aus dem Schulunterricht, dass die deutsche Armee am achten Mai, also in sechs Tagen, bedingungslos kapitulieren wird.
Nur finde ich in diesem ganzen Schloss, in diesem von deutschen Soldaten und Offizieren wimmelnden Gemäuer, niemanden, der mir Glauben schenkt. Der mir überhaupt noch zuhören darf, wenn ich über den Gang der Dinge, die historische Entwicklung von 1945 bis zur Gegenwart, Wirtschaftswunder, das transatlantische Bündnis, Eiserner Vorhang, Mauerbau und die Teilung der Welt, schliesslich das Ende des Kalten Krieges, deutsche Wiedervereinigung und den Zusammenbruch des Sowjetimperiums per Implosion etcetera etcetera verbindliche Aussagen mache.
Man hat wiederholt versucht, mich der Spionage zu überführen. Mit mässigem Erfolg. Laptop und Handy auf den Beifahrersitz, Entwürfe und Pläne für ein Einkaufszentrum, das gab diesen Leuten nur unlösbare Rätsel auf.
Der Vorwurf der Wehrkraftzersetzung, wie sie es damals nannten, trifft da schon eher ins Schwarze.
Der Kommandeur dieses Schlosses, irgend ein namenloser Major, hat mich daraufhin zum Tode verurteilt.
Bei Sonnenaufgang wird das Urteil vollstreckt.
Die Blätter dieses Berichts gingen von Hand zu Hand. Herausgerissene Seiten eines Schulheftes. Das grobe, billige Papier war vergilbt, das Karomuster, für kindliche Rechenkünste gedacht, fast völlig verblasst. Nur die Schrift - Schwarzer Kugelschreiber - war klar und deutlich geblieben. Über mehr als fünf Jahrzehnte. Nichts war verwischt, nichts unleserlich.

Die letzten Aufzeichnungen eines Todeskandidaten stelle ich mir anders vor. Sentimentaler, und vom Schriftbild her fahrig, unkonzentriert, nervös. Aber das Gegenteil war der Fall.

Das Protokoll der unheilvollen Geschehnisse war durchgehend in kantigen, leicht kursiv gestellten Versalien abgefasst. Sie verrieten einen ausdrucksvollen, selbstbewussten Charakter.

Architekten und Ingenieure schreiben bisweilen so, geschult an technischen Konzepten.

Und auch die Schilderung der beängstigenden Ereignisse klang sachlich und distanziert.

Mein Freund Oppenheimer, Deutsch-Amerikaner mit einem Lehrstuhl für Psychiatrie an der Cornell University, widerrief, als er diese Niederschrift zu Ende gelesen hatte, seine zu Beginn der Lektüre leichtfertig erstellte Diagnose einer paranoiden Schizophrenie. Nein, der Verfasser war bei wachem Verstand, auch wenn er das, was mit ihm und um ihn geschah, nicht einordnen konnte.


Die Zeit rast. Inzwischen ist es vier Uhr und drei minuten.
Möglicherweise wird es draussen bereits hell, und meine Minuten sind gezählt.
Kein Lichtschein dringt herein, keiner heraus. Nicht einmal der Schimmer dieser armseligen Kerze. Alle Fenster dieses Hauses sind mit schwarzer Pappe vernagelt. Aus Sicherheitsgründen, wie man mir sagt.
Das dumpfe Grollen, Geschützdonner und eine ununterbrochene Folge von vibrierenden Detonationen, diese erschreckende Symphonie eines Krieges, von dem ich weiss, dass er seit über fünfzig Jahren beendet ist, war in den letzten Stunden näher gekommen.
Nicht jedoch nah genug, um daraus Hoffnung zu schöpfen.
Mein Alptraum hatte Gestalt angenommen, war absolute, unleugbare Realität geworden. Es gab keinerlei Zweifel mehr:
Dies ist das Jetzt, das Hier, das Heute.
Die Tauben im Hof beginnen zu gurren und scharren mit ihren Krallen über die rostigen Fensterbleche.
Ich habe keine Erfahrung, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie mit ihrem Paarungsspiel beginnen.
Dass es Tag geworden ist, werde ich daran erkennen, dass man mich holt und hinausführt, um mich an die Wand zu stellen und abzuknallen.
Wie einen Schurken in einem dieser Edelwestern.
Es sei denn, das Unbegreifliche, das mir zugestossen ist, ereignet sich ein zweites Mal und versetzt mich dorthin, wo ich hergekommen bin.

Der Hausmeister dieser Schlossruine hütete diese Aufzeichnungen wie eine bibliophile Kostbarkeit seit nunmehr fünf Jahrzehnten. Er hatte das graue, bereits adressierte Kuvert aus dem untersten Fach eines Wäscheschrankes geholt und die losen Blätter vor sich auf dem Tisch ausgebreitet.

Wir waren zufällig mit ihm ins Gespräch gekommen. Er faselte etwas von einem Jahrestag und bat uns in das kleine Pförtnerhaus, das er mit seiner Frau bewohnte.

Von der Ruine des Schlosses ragten nur noch Mauerreste und ausgehöhlte Fassaden unwirklich und bizarr in die noch kahlen Wipfel uralter Buchen.

Es war ein eiskalter Frühlingstag, dieser Samstag, der zweite Mai. Der blaue Himmel hatte nicht gehalten, was man sich von ihm versprach. Der geplante Maiausflug in das Voralpenland, zu Ehren meines amerikanischen Freundes und seiner Frau, hatte überwiegend im geheizten Wagen stattgefunden.

Bis mir dieser alte Mann über den Weg und fast unter den Wagen lief und ich voll auf die Bremse trat. Er war aus dem Tor gehumpelt, ohne sich umzusehen. Die Arme vollgepackt mit einem großen Buschen dürren Reisigs, das er von den Rosenbeeten abgenommen hatte. Die waren letzte Nacht noch von leichtem Schnee bedeckt.

Auf der anderen Seite der Straße brannte ein Feuer. Aber man sah keine Flammen. Nur dichter, gelber Qualm quoll aus dem feuchten Reisighaufen, den der alte Mann bereits zusammengetragen hatte.

Seine Last ließ er also fallen, mitten auf der Straße. Stand dort ein paar Sekunden gelähmt vor Schreck. Dann begann er uns zu beschimpfen.

Eine Frau erschien in der Tür des Hauses. Weißhaarig und vermutlich genauso alt wie er. Sie sah uns an, schob mit einer unsicheren Geste eine Haarsträhne über die Stirn, öffnete mehrmals den Mund, sagte aber kein Wort. Sie fragte auch nichts und ging, als ich ausstieg, wieder wortlos hinein, sehr rasch, sehr scheu, und schloss die Tür.


Seit dieser stummen, flüchtigen, hektischen Umarmung blieb das Mädchen verschwunden.
Sie war für mich namenlos geblieben.
Es gab keine Chance miteinander zu reden. Es wäre in dieser Situation auch überflüssig und absurd gewesen, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Und hinterher, nach dieser quälenden und scheinbar so sinnlosen Begattung, denn von Sex oder gar Liebe konnte keine Rede sein, war sie atemlos und stumm verschwunden.
Die Begegnung mit diesem Mädchen erscheint mir plötzlich unwirklich und zwanghaft.
Erst jetzt, während ich versuche darüber zu schreiben, erhält diese Beziehung so etwas wie einen tiefere Bedeutung.
Erst jetzt ahne ich, vermute ich, weiss ich, dass es eine übernatürliche Kraft gewesen sein muss, die uns zusammenführte. Die gleiche Kraft, die mich aus meiner realen Gegenwart in eine ebenso reale Vergangenheit befördert hatte.
Dieses Mädchen und ich, wir sind wie zwei Marionetten. Wir spielen eine Rolle in einem absurden Stück, dessen Inhalt wir nicht kennen und dessen Sinn wir nicht begreifen können.
Dieses Mädchen und ich, wir sind Teil eines Plans.
Und dieser Plan hatte vorgesehen, dass wir uns begatten, zu welchem ungewissen, höheren Zweck auch immer.
Erst jetzt, in der Erinnerung, beginne ich die Weichheit und die Wärme ihrer Haut zu spüren.
Nehme erst jetzt ihren Geruch nach billiger Seife und Küche, nach Schweiss und Moschus wahr.
Und ich sehne mich danach, dass sie noch einmal erscheint.
Mich noch einmal ansieht, stumm und fragend, fast flehend mit ihren dunklen, verschatteten Augen, und dabei mit nervöser Geste zur Stirn fährt, um den roten Fleck über der linken Braue, dieses Feuermal, mit einer Strähne ihrer schwarzen Haare zu verdecken.
Aber sie wird nicht kommen. Aus Scham vermutlich.
Und weil diese Geschichte zu Ende, der Plan erfüllt und die Sache getan ist.
Ohne mich noch einmal anzusehen, war sie scheu und verlegen in ihre Kleider geschlüpft, hat mich auf diesem verdreckten Matratzenlager, das mit Taubenkot übersät war, zurückgelassen. Keine Sekunde zu früh.
Schon waren sie wieder aufgetaucht, diese uniformierten Typen. Gepolter von Schaftstiefeln, Blinken von Taschenlampen. Einer blendete mir voll ins Gesicht.
Anziehen, mitkommen, rief er, nahm mir die Handschellen ab, die sich bei dieser tierischen Rammelei tief in meine Gelenke eingeschnitten hatten.
Der Major, hiess es, wolle mich sprechen.

Ich entschuldigte mich, während ich ausstieg, und half dem alten Mann das heruntergefallene Reisig aufzuheben. Er warf es auf den stinkenden, qualmenden Haufen. »Es ist ja nichts passiert!« Er schien versöhnt und schwieg und starrte in den Qualm.

»Hier kommt selten einer vorbei«, sagte er schließlich.

Und nach einer weiteren Pause: »Haben Sie sich verfahren?«

»Hier ist ein Schloss eingezeichnet.« Ich zeigte ihm den Punkt mit dem Fähnchen auf der Landkarte.

Er nickte nur, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Nicht mehr viel von übrig.«

Dann kniff er die Augen zusammen. »Sind Sie vom Denkmalschutz?«

»Nein. Ich bin Schriftsteller. Aber ich interessiere mich für so alte Gemäuer. Darf man es ansehen?«

»Besser nicht. Einsturzgefahr. Jetzt im Frühjahr sind die obersten Steine alle locker geworden. Durch den Frost und den Regen.« Dann ging er aber doch voraus durch das Tor. Es war aus rotem Sandstein und wies auf beiden Seiten starke Schrammspuren auf. Für Kutschen mag es ja noch breit genug gewesen sein.

Der eine Torflügel hing windschief und mit zahllosen Latten und Bretterresten geflickt in den Angeln. Der zweite lag abseits im Gebüsch und vermoderte dort.

Ich wartete auf Freund Oppenheimer und seine Frau, die nun ebenfalls ausgestiegen waren, dann folgten wir dem alten Mann bis zum Portal der Ruine.

Aus dem Schutt, hinter den leeren Fensterhöhlen, wucherten Sträucher und Bäume und rankten sich durch alle Stockwerke hindurch bis weit über das verschwundene Dach. Die zerborstene Fassade wies immer noch dunkle Brandspuren auf.

Oppenheimer zeigte auf ein verwittertes Wappen hoch oben am Giebel. »Das Zeichen der Besitzer?«

»Das Wappen der Grafen, ja.« Der alte Mann blinzelte in den weißgrauen Himmel. »Aber die kümmern sich nicht mehr um ihren Besitz. Sie wollten ihn schon abreißen lassen, um eine Kurklinik zu bauen. Aber der Denkmalschutz hat das bisher verhindert.« Damit wandte er sich ab und ließ uns allein.

Wir gingen einmal um das ganze Gebäude und stellten Mutmaßungen an. »Zerstört im Dreißigjährigen Krieg?« fragte Lisa Oppenheimer.

Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Später vermutlich. Viel später. Wir hätten den alten Mann fragen sollen.« Er sah sich um. Aber der war bereits im Pförtnerhaus verschwunden.

»Schlösser brennen nicht nur im Krieg«, ergänzte Oppenheimer und kroch an Büschen vorbei in das Innere der Ruine.

»Sei vorsichtig!« rief seine Frau. Aber er antwortete nicht.


Angela hatte keine Lust, mich ausreden zu lassen.
Ich hatte sie gegen halb acht angerufen, um ihr zu sagen, dass es noch eine Weile dauern würde. Und dann noch einmal, während der Heimfahrt, vom Wagen aus, mit meinem Handy. Es war schwer, ihre Vorwürfe zu stoppen.
Zugegeben, es ist frustrierend, Tag für Tag, Sonn- und Feiertage eingerechnet, als grüne Witwe in dem erträumten Häuschen auf dem Land zu sitzen.
Aber es ist ebenso frustrierend, in einer Tretmühle zu hänge, die man Karriere nennt. Wozu das alles?!
Heute war ein wunderschöner Tag gewesen. Erster Mai noch dazu. Alles fuhr hinaus und genoss die Sonne.
Nur ich und mein Partner, wir hockten mutterseelen-allein in diesem ungeheizten Büro, änderten Pläne und Pausen, klebten ein allerletztes Mal an unserem Modell herum. nur damit die Entwürfe rechtzeitig zum Stichtag auf dem Tisch der Jury stehen.
Dabei haben wir nicht die geringste Chance, bei diesem Wettbewerb auch nur in die engere Wahl zu kommen.
Dabeisein ist alles, heisst es in solchen aussichtslosen Fällen. Aber in meinen Augen ist ein entgangener Auftrag für einen Architekten in meinem Alter kein echter Prestigegewinn.Es würde, darin war ich sicher, das letzte Mal sein, dass ich mir mit ansehe, wie die Arbeit von neununddreissig Tagen und vierzig Nächten bereits im ersten Durchgang zur Seite gestellt wird. Aus und vorbei.
Ich sagte Angela, ich würde mit Joachim noch eine Kleinigkeit essen und dann den ganzen Ramsch zur Hochschule bringen. Und dann hätte ich – grosses Ehrenwort – drei Tage frei. Langes Wochenende.
Und um zehn spätestens sei ich zu Hause.
Wir haben keine Kleinigkeit gegessen, weil die Kneipe unten zu hatte. Erster Mai. Und in der Hochschule wurden wir unsere Entwürfe nicht los.
Das grosse Ehrenwort war längst gebrochen.

Wir stapelten also alles wieder im Büro.

Bis morgen früh.
Dann trennte ich mich von Joachim so gegen halb elf, nach einer beiläufigen Diskussion über zeitlose Architektur, die es nicht gibt, nie gegeben hat, nie geben wird, über Zeit an sich als gelebte und erlebte Fiktion, als relatives, fliessendes Phänomen, vierte Dimension und was einem zu diesem Thema sonst noch einfällt
Dann fuhr ich zur Autobahn.
Ich schreibe das so ausführlich, damit meine Frau, Angela Hagen, geborene Hoermann, Stieglitzweg 7 in Höhenrain, damit Freunde und Bekannte sich ein Bild machen können, was geschehen sein könnte. Sofern sie diese Zeilen jemals zu Gesicht bekommen.
Denn ich finde aus dieser Geschichte nicht mehr heraus.


Ich liebe verwilderte Parks: zugewachsene Wege, efeuumrankte, zerfallene Putten, die geborstenen Marmorbecken der Fontänen.

Ein verwitterter Pavillon. Der weiße Lack blätterte in großen, gewölbten Schuppen vom Holz. Eine von Wurzeln überwucherte Terrasse. Und über allem drohte diese bizarre Ruine aus braunrotem Sandstein.

Als wir das Tor wieder erreichten, kam uns der alte Mann entgegen.

Er deutete auf meinen geparkten Wagen: »Meine Frau möchte wissen, was das für ein Fahrzeug ist.«

»Ein Landrover.« Und ich fragte dagegen:

»Ihre Frau will das wissen?«

»Landrover, ja! Richtig: >Land-Rover>!« Er lachte, weil es am Heck deutlich sichtbar draufstand. »Meine Frau sagt, sie hat so ein Landrover-Fahrzeug, schon einmal gesehen!«

»Das ist möglich. Es gibt viele davon. Sie kommen aus England.«

»Ja«, sagte der alte Mann mit einer seltsamen Beharrlichkeit, »das weiß sie. Das mit England. Sie hat nur vergessen, wie das Fahrzeug heißt. Man kann ja nicht alles im Kopf behalten. Fünfzig Jahre lang.«

An einem der kleinen Fenster des Pförtnerhauses erschien eine weiße, knochige Hand und schob die Gardine etwas zur Seite.

Dunkle, ausdrucksvolle Augen, ein interessierter, fast neugieriger Blick. Der Mund öffnete sich leicht. Die Zunge versuchte die schmalen Lippen anzufeuchten. Mit der anderen Hand fuhr sich die alte Frau über das weiße Haar und schob wieder die Strähne über die Stirn, so, als hätte sie dort etwas zu verbergen.

Oppenheimer und ich tauschten kurze Blicke aus. Er fühlte sich plötzlich beruflich angesprochen, gewissermaßen zuständig.

»Wann, sagten Sie, will Ihre Frau diesen Wagen, diesen Landrover, schon einmal gesehen haben?« fragte er. »Wann und wo?«

»Hier!« sagte der alte Mann. »Genau hier, wo Sie stehen. Im Hof!«

Er nickte zum Fenster hin. Die Gardine fiel zurück, und die Greisin war verschwunden.

»Ich war ja nicht dabei damals,« entschuldigte sich der Mann. »Ich war in Gefangenschaft bis Weihnachten '45. Aber seit ich zurück bin, geht es immer nur um diese eine Geschichte. Und ich kenne sie inzwischen ganz gut, das dürfen Sie mir glauben.«

Er trat diskret zur Seite und schneuzte sich mit zwei Fingern. Dann kam er zurück.

»Sie ist drei Jahre jünger als ich. Damals war sie knapp sechzehn. Und Sie können jetzt annehmen, sie sei verrückt«, fuhr er fort. »Das würde ich Ihnen nicht übel nehmen. Das glauben nämlich alle hier in der Gegend. Und daran ist sicher was Wahres. Denn normal ist sie nicht ...«

»Ja ja«, warf Oppenheimer ein und lächelte, »normal - wer ist das schon?«

Aber darauf ging der alte Mann nicht weiter ein: »Ich jedenfalls glaube ihr die Geschichte, dass sie diesen Mann getroffen hat und ein Kind gekriegt hat von dem. Sie verstehen, ja?«

Oppenheimer nickte nur.

»Und dass sie in seinem Wagen saß. In so einem Wagen wie dieser hier, einem Landrover-Auto, nur eben in Weiß und nicht in Schwarz wie das Ihre, und mit roten Lederpolstern und mit zahllosen Schaltern und Knöpfen und Lampen. Bis die Soldaten sie da verjagten. Und ihr Prügel androhten. Falls sie sich noch mal da reinsetzen würde. Weil, sie hat es ja heimlich getan!«

Er blickte wieder zum Fenster. Aber die alte Frau blieb verborgen hinter der Gardine.

Sinnlos, so einen Fall aufklären zu wollen. Eine fixe Idee, eine Täuschung oder Verwechslung. Den Einwand, dieses Modell existiere erst seit 1976, konnte ich mir sparen.

Der alte Mann war nun zu meinem Wagen getreten und fuhr mit seinen schwieligen Händen zart über den Lack der Haube.

»Schönes Auto«, sagte er. »Schade darum!«

Und erst nach einer Pause fuhr er fort: »Sie hat sogar dabei geholfen, den Wagen in die Scheune zu schieben. Mit dem Toten drin. Dem Erschossenen. Aber nur, weil man das von ihr verlangt hat.«

»In welche Scheune, bitte?« Ich sah mich um. Es gab keine Scheune weit und breit.

»In die Scheune, in der er dann verbrannt ist. Weil man ihn verschwinden lassen wollte. Den Wagen mitsamt der Leiche von dem Mann. Weil es ja ein Beweis gewesen wäre.«

Der alte Mann zeigte in eine bestimmte Richtung, dorthin, wo das Buschwerk am dichtesten stand.

»Ein paar Fundamente finden Sie noch zwischen den Wurzeln. Und vielleicht Spuren von Rost. Das ausgeglühte Metall hat ein Schrotthändler abgeholt. Irgendwann. Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit.«


Als ich die Einfahrt zur Autobahn erreichte, begann der unendliche Regen.
Meine Spur war fast leer, aber in der Gegenrichtung, zurück zur Stadt, fluteten die Kolonnen der Ausflügler dieses strahlenden ersten Mai, und die Lichter spiegelten sich im nassen Asphalt, brachen sich in den Tropfen, die auf meine Scheibe sprühten, und blendeten mich. Ich kündigte meiner Frau per Handy die baldige Heimkehr an, sei schon auf dem Weg.
Sie reagierte aggressiv und keineswegs erfreut.
Hätte mich ja auch gewundert.
Die tägliche Anfahrt, die Routinestrecke, fährt man mit halbem Bewusstsein. Die andere Hälfte macht Pläne, löst Probleme oder hängt Wunschträumen nach.
Immerzu weiterfahren, dachte ich, als der Regen sich in Schneematsch verwandelte und den Wischer verklebte.
Immerzu weiter, nach Süden, über Alpenpässe hinweg, die ganze Nacht hindurch, bis es wieder Tag würde und der Sommer ausbricht.
Weg vom Stress, von den ständigen Verpflichtungen, einfach ausflippen, alles hinter sich lassen.
jedem Zugriff entfliehen, auswandern in einen anderen Kontinent, in eine andere Existenz, in eine andere Zeit.
Mit sechsundvierzig ist dazu die beste, aber vermutlich auch die allerletzte Gelegenheit, dachte ich.
Aus dem Autoradio die Elf-Uhr-Nachrichten: Der Horror des Tages. Die tägliche Dosis an Schrecken.
Noch ein Grund mehr, sich abzusetzen.
Von einer Welt voller Katastrophen: Bürgerkriege und Hunger. Übervölkerung und Seuchen
Wirbelstürme, Überschwemmungen, Erdbeben.
Und überall zigtausend Tote. Atomare, chemische, biologische Waffen aufgehäuft in Krisengebieten.
Brennende und sterbende Wälder, verseuchte Flüsse und Seen, leergefischte Meere, verpestete Luft, dazu drohende Rezession und steigende Arbeitslosigkeit.
Und abschließend noch die übliche Panikmache der Wirtschaftsexperten. Die Asien-Krise, die Südamerika-Krise. Dow-Jones-Index und Dax auf weiterem Abwärtstrend.
Also gut: Nichts wie weg!
Möglichst jetzt und sofort! Möglichst weit!
Auf einen anderen, friedlicheren Planeten.
In eine andere, bessere Zeit!
Aber anstatt auszuflippen und in das Land meiner Träume, in eine rosige Zukunft zu verschwinden, verliess ich wie jede Nacht die Autobahn an der gewohnten Ausfahrt und fuhr die letzten sechzehn Kilometer auf der üblichen Landstrassenroute nach Hause.
Der Schneeregen war inzwischen dichter geworden.
Die kreisenden Flockenwirbel im Scheinwerferlicht nahmen mir jede Sicht.
Das aufgestellte Warndreieck am Rande der Strasse hätte ich daher fast übersehen.
Dicht hinter dem beschädigten Fahrzeug, einem alten VW-Bus, kam ich zum Stehen.
Ein Baum war umgestürzt, blockierte die Fahrbahn.
Und der VW-Bus war in das Gewirr von geknickten Ästen hinein geschliddert.
Er war verlassen. Die Schiebetür stand halb offen. Von dem Fahrer keine Spur.
Ich wendete mit Allradantrieb durch den bodenlosen Matsch, fuhr zurück und suchte mir einen Umweg durch den Wald und über die Dörfer.
Mit einer Karte wäre mir das leichter gefallen.
Sie lag griffbereit im Handschuhfach.
Aber ich hatte keine Lust, nochmals anzuhalten.
Ich kannte ja die Richtung und fuhr auf gut Glück die nächstbeste Forststrasse hinein.
Sie war gesperrt für Fahrzeuge aller Art.
Aber dies hier war ein Notfall.
Als ich den Wald verliess und das Brachland erreichte, sah ich die ersten feldgrauen Gestalten.

»Zuchthaus? Mein Gott, wofür?« wollte Oppenheimer wissen und senkte mit Blick auf die alte Frau, die stumm in der Ecke saß und ihn anstarrte, die Stimme.

»Reden Sie ruhig laut weiter!« Der Mann machte eine abfällige Handbewegung, dann stellte er die einzigen drei Stühle ordentlich um den Tisch und forderte uns zum Sitzen auf. »Wenn Sie mit dem Rücken zu ihr sitzen, können Sie reden, was Sie wollen. Sie versteht Sie nicht. Sie ist taubstumm!«

Die alte Frau schob mit nervöser, unsicherer Geste wieder einmal die weiße Strähne über die Stirn und ließ uns nicht aus den Augen. Sie las uns ganz offensichtlich jedes Wort, das sie sehen konnte, von den Lippen ab. Und ich war sicher, es entging ihr nichts.

Da saßen wir nun in diesem einzigen Raum, in dem gelebt, gekocht, gegessen wurde, vielleicht auch geschlafen, auf dieser einzigen, durchgelegenen Couch, auf die sich das greise Paar zurückgezogen hatte.

»Zuchthaus, ja. Zehn Jahre, mindestens, hätte sie bekommen. In normalen Zeiten, meine ich.« Er schaute sie an, aber sie reagierte nicht. »Es war ja kurz nach dem Krieg. Und Zeugen für das, was sie getan hatte, gab es ja keine mehr. Dazu taubstumm und außerdem schwanger...« Er lachte verlegen.

»Man hat nichts herausbekommen aus ihr. Da hat man sie laufen lassen. Nicht zurechnungsfähig, verstehen Sie? Und inzwischen ist es ja auch verjährt.«

Der Alte schwieg, und keiner von uns wagte, irgendwelche Fragen zu stellen. Wir sahen uns um. Der Raum war angefüllt mit Erinnerungsstücken eines drittklassigen Lebens, war abgewohnt und muffig. Ein Kruzifix hing in der Ecke, mit Strohblumen und einer heruntergebrannten Kerze geschmückt. Darunter stand in einem altmodischen Plastikrahmen das Bildnis eines Mannes mit segnend ausgebreiteten Armen, das Friedenszeichen in der rechten Hand. Hinter ihm erstrahlte ein Sonnenaufgang in den leuchtendsten Farben. Es war eine Fotografie, das Titelbild einer Zeitung, für den Rahmen passend zurechtgeschnitten. Also keineswegs der übliche Sakralkitsch auf Hochglanzpapier.

»Ich kenn den Mann!« flüsterte Oppenheimer mir zu. »Ich täusche mich nicht! Ein Sektenführer und Friedensapostel der militantesten Sorte. Ein Amerikaner, dem damals vor fast dreißig Jahren Tausende oder gar Zehntausende zuliefen! Joshua aus Missouri. Damals, während des Vietnamkrieges, waren die Zeitungen voll mit Berichten über ihn. Sehen Sie: das hier war, zum Beispiel, das Titelbild von >Newsweek<. Für die einen war er ein Scharlatan und Demagoge, für die anderen ein Prophet. Als er in Washington eine Demonstration anführte und die Bannmeile vor dem Capitol durchbrach, wurde er erschossen. Ein Unfall, wie es hieß. Daraufhin brach fast ein Bürgerkrieg aus. Sein Tod hat ursächlich zum Abzug der US-Truppen aus Vietnam geführt. Was die Regierung natürlich stets geleugnet hat.«

Die drei folgten Oppenheimer in diesen kargen Hergottswinkel und betrachteten das Bild.

»In Missouri, dort wo er herkam,« fuhr Oppenheimer fort, »wird er immer noch als Heiliger verehrt. In den übrigen USA ist es ein wenig still geworden um ihn. Aber nun hat er bereits seine Gemeinde hier im abgelegensten Europa! Erstaunlich!«

Der alte Mann nahm das Bild vom Regal und drückte es Oppenheimer in die Hand. »Das ist Joshua. unser Sohn!« sagte er nur. Und es klang sehr schlicht und keineswegs stolz.

Oppenheimer war sprachlos. Dann lächelte er amüsiert: »Wie denn ? Dieser Mann hier ... Das ist Ihr Sohn?«

»Von ihr dort drüben, ja!« Er zeigte auf seine Frau. »Ich hatte mit ihrer Schwangerschaft ja nichts zu tun.« Er nahm Oppenheimer das Bild wieder ab und reichte es mir.

Oppenheimer sprach weiter, ohne von der Herkunft dieses Mannes überzeugt zu sein: »Der Kerl hieß Joshua Goodlife, oder nannte sich zumindest so.«

Ich reichte das Bild an Lisa Oppenheimer weiter, die offenbar eine andere Meinung hatte als ihr Mann: »Ich erinnere mich sehr genau. Er predigte Liebe und Menschlichkeit und vor allem Frieden! Ich möchte wissen, was daran schlecht sein soll!?«

»Na bitte! Da haben wir's!« Oppenheimer setzte sich an den Tisch und lehnte sich resigniert zurück. »Die Frauen! Dabei hetzte dieser Agitator die Bevölkerung auf, zum passiven Widerstand gegen den Staat, forderte die Soldaten auf zu desertieren, polemisierte gegen unsere Verpflichtungen gegenüber der freien Welt!«

Lisa schüttelte den Kopf. »Er predigte gegen das Wettrüsten, gegen Rüstungsexporte, gegen diesen Wahnsinnskrieg in Vietnam, der nicht unser Krieg war, gegen diese alberne, selbstmörderische Rivalität gegenüber dem kommunistischen Lager. Er verkündet eine friedliche Welt, ein gutes, einfaches Leben in Bescheidenheit, und er forderte Respekt vor der Natur. Ich war damals siebzehn und auf dem College in L.A.. In Washington wäre ich sofort mitmarschiert. Und wenn er genügend Kapital für den Wahlkampf gehabt hätte, er wäre unser Präsident geworden und hätte Nixon abgelöst!«

Oppenheimer reagierte sarkastisch »Weder bei den Demokraten noch bei den Republikanern hatte er die geringste Lobby.«

»Weil er die Wahrheit verkündet hat. Und weil Rüstung und Krieg ein gutes Geschäft sind und scheinbar Arbeitsplätze schaffen!«

Der alte Mann nahm das Bild wieder an sich. »Ich habe nicht verstanden, was Sie da geredet haben über ihn. Aber Sie müssen ihn verwechseln. Joshua ist Prediger in Amerika und es geht ihm gut.« Er stellte das Bild zurück in die Nische. »Manchmal hat er uns Geld geschickt. Damals. Aber das ist lange her.«

Da wurde die Alte in ihrer Ecke lebendig. Sie stieß einige gutturale Laute aus und verschränkte hastig und aufgeregt die Finger zu irgendwelchen Zeichen. Der Mann nickte, als hätte er verstanden.

»Sie müssen entschuldigen«, wandte er sich wieder an uns, »aber sie hat da so ihre eigene Meinung.« Offenbar war diese ihm peinlich. Er nahm das Bild noch einmal an sich und betrachtete es nachdenklich.

»Ein außergewöhnlicher Mensch ist er schon«, fuhr er fort, »mit gewaltigen Fähigkeiten. Er predigt einer großen Gemeinde, heilt Kranke und er tut auch Wunder. Ja, das ist verbürgt. Und nun glaubt sie, er sei ein Messias!«

Die Alte hatte diese Erklärung von seinen Lippen abgelesen. Sie stieß wieder ihre seltsamen Laute aus, nickte zustimmend und befriedigt.

»Möglich«, sagte der alte Mann, während er das Bild nun endgültig zurückstellte auf seinen angestammten Platz, »möglich, dass er ein Messias ist. Viele, sehr viele glauben das. Ich habe dazu keine Meinung.

Mein Kind ist es ja nicht. Ich habe ihn zwar mit großgezogen, aber da war er ein ganz normaler Junge, wie jeder andere auch.«

Er ließ sich wieder ächzend auf die Couch fallen. Da redete die Alte auf ihn ein, mit Zeichen und Lauten. Und der alte Mann wehrte ab, und dann sprach er laut und deutlich und unterstrich seine Worte mit Gesten, die er von ihr übernommen hatte:

»Ich habe das den beiden Herren und der Dame gerade erklärt! Die wissen nun alles darüber. Sei nun still und gib Ruhe!«

Aber sie war nicht still, gab keine Ruhe. Da ergänzte er die Geschichte noch um einige wesentliche Details: »Also gut! Als ich nach dem Krieg wieder hierher nach Hause kam, erst Russland, dann Normandie und dann gefangen bei den Franzosen, ich war ja auch erst neunzehn, da waren unsere Eltern tot. Ihr Vater war Verwalter gewesen, hier, und gefallen in Nordafrika, der meine war Gärtner und vermisst im Kaukasus. Ihre Mutter war Köchin beim alten Grafen und starb kurz vor Kriegsende an Lungenentzündung, die meine war mit einem Amerikaner auf und davon. Nur wir beide waren noch da. Hatten niemanden mehr außer uns. Wir waren zusammen aufgewachsen und da heirateten wir eben. Das Kind sollte ja auch einen Namen bekommen.«

Er lachte leise vor sich hin, aber es klang sarkastisch: »Sie war, als ich zurückkam, fast schon im neunten Monat schwanger, und genauso lang war der Krieg vorbei.« Er fing an zu husten. Es war ein rauer, böser Husten. Er krallte sich an ein Sofakissen und hielt den Ärmel seiner Jacke vor das Gesicht.

»Na schön, sie war also schwanger! Es soll im Krieg Schlimmeres geben!« Der Husten hatte nachgelassen, und er nickte bei dieser Mitteilung gottergeben.

»Schwanger von diesem Fremden, verstehen Sie, den dieser Major einfach erschießen ließ. Vor ihren Augen. Und dann haben sie ihn in das schöne Automobil gelegt, haben es in die Scheune geschleppt, das Ganze mit Benzin übergossen und angezündet. Alles verbrannt. Um die Spuren zu vernichten.«

Die Alte nickte, und der Mann machte eine Pause. Zwangsläufig. Der Husten machte ihm schwer zu schaffen. Oppenheimer würde in solchen Fällen sagen, dieser Husten hätte etwas mit dieser Geschichte zu tun, ein sichtbares Zeichen des Protests! Aber Oppenheimer sagte nichts, er wartete ab und hörte zu.

»Da hat sie durchgedreht!« fuhr der alte Mann schließlich fort, als er wieder atmen konnte. »Einfach durchgedreht. Für sie war dieser Mensch ja wie ein Gott aus einer anderen Welt. Der steigt aus einem weißen Wagen, in einem weißen Anzug, predigt Frieden, sagt diesen Militärs, sie sollen endlich aufhören und kapitulieren, es sei alles sinnloser Selbstmord. Und er riskiert damit sein Leben. Ziemlich unvorsichtig so etwas. Damals. Ein paar Tage, bevor dieser verdammte Krieg ohnehin endgültig vorbei war.«

Wieder hustete er. Diesmal mit spürbarem Erfolg. Er entfaltete sein Taschentuch und spuckte umständlich hinein. Dann steckte er es sorgfältig in seine Tasche.

»Das Haus war ja voller Offiziere und SS-Leute, das waren die mit dem Totenkopf an der Mütze«, erzählte er weiter. »Und als alle wieder vom Hof verschwunden waren, alle wieder drinnen im Schloss, wegen der Tiefflieger und weil es Essenszeit war, da tat sie es.«

Der alte Mann machte eine bedeutungsvolle Pause. Er schien zu zögern, bevor er sich entschloss, die grausige Tat diesen Fremden gegenüber zu gestehen:

»Sie hat zwei volle Kanister mit Benzin ins Treppenhaus geschleppt, sie wusste ja nun, wie man so etwas macht, die hat sie ausgeleert und alles angezündet. Später ist dann im Parterre noch die ganze Munition in die Luft geflogen. Und sie sagte, von allen, die drin waren im Schloss, ist keiner lebend aus dem Feuer gekommen.«


Sie liefen in einzelnen Gruppen rechts und links von der Strasse. Schleppten sich müde dahin, mit dem gleichen Ziel wie ich.
Einige wandten sich um, wenn sie in das grelle Licht meiner Scheinwerfer gerieten.
Sie blickten irritiert und geblendet auf meinen Wagen.
Ein Nachtmanöver offenbar. In diesen Friedenszeiten höchst überflüssig, wie ich fand.
Licht aus! schrie einer. Und dieser Ruf pflanzte sich fort von Gruppe zu Gruppe.
Die Gesten, mit denen dieser Forderung Nachdruck verliehen wurde, waren unmissverständlich.
Der Schneeregen hatte zwar aufgehört, aber ohne Licht auf dieser schmalen Feldstrasse in den Graben oder in einen dieser grauen Trupps hineinzuschlittern, dazu hatte ich keine Lust.
Die Kolonnen wurden dichter. Nur zögernd machten diese Männer, die dahinzogen wie eine geschlagene Armee, den Weg für mich frei.
Je weiter ich fuhr, desto unheimlicher wurden mir diese Gestalten. Das waren keine gutgenährten Bundeswehrsoldaten, denen man den Tort angetan hat, sie auf eine Nachtübung zu schicken.
Das war eine perfekte Filmstatisterie, in Kleidung und Maske und Haltung. Lemuren mit eingefallenen Wangen, unrasiert, in zerfetzten Uniformmänteln, behängt mit abgegriffenen, veralteten Waffen.
Einigen hatte man blutige Verbände angelegt, liess sie an Stöcken humpeln, den Arm in der Schlinge.
Ihre Stahlhelme trugen sie in der Hand oder am Koppel.
Die vergammelten Schildmützen waren tief über die Ohren gezogen.
Ein Kriegsfilm, natürlich. Immer noch ein grosser Markt dafür von Hollywood bis Tokio.
Nur – woher kamen die Männer? Wohin zogen sie?
Ich hätte stehen bleiben und fragen können.
Aber eine seltsame Beklemmung hatte mich gepackt.
Ich hatte nur ein Ziel: raus und weg aus diesem Gespensterreigen.
Denn dieser Alptraum hörte nicht auf.

Der Alte hatte das Kuvert mit den Aufzeichnungen auf den Tisch gelegt, nicht ohne das Plastiktuch vorher peinlichst zu säubern.

>An Frau Angela Hagen<, stand da in großen Lettern. >Stieglitzweg 7, 83620 Höhenrain<.

Dann nahm er mit zitternden Händen die vergilbten losen Blätter heraus und verteilte sie über den Tisch. Sie waren nicht durchnumeriert, die ursprüngliche Reihenfolge war längst verlorengegangen.

Wir fingen also an zu lesen, und es dauerte, bis sich das Puzzle zu einer verständlichen Geschichte zusammenfügen ließ.

»Warum haben Sie diesen Brief nicht weggeschickt? Da steht doch der Empfänger auf dem Kuvert«, wollte ich wissen:

»Frau Angela Hagen ...«

Aber der Alte winkte nur müde ab. »Die gibt es nicht. Ich bin selbst hingefahren. Zweimal sogar. Und mit dem Fahrrad. 1946, kurz nach meiner Rückkehr. Über Glatteis und durch Schnee. Später im Jahr dann noch einmal. In Höhenrain gibt es keine Angela Hagen. Und auch keinen Stieglitzweg. Höhenrain ist ein kleines Bauerndorf. Ich habe alles abgesucht und jeden gefragt. Tut mir leid.«

Er fing wieder an zu husten. Irgendwie war es ihm peinlich, daß dieser Brief die Adresse nie erreichte.

»Aber dann,« fuhr er schließlich fort, »wollte meine Frau ihn behalten. Als Beweis. Schließlich war der Mann, der das geschrieben hatte, der Vater ihres Kindes.«

Oppenheimer, seine Frau und ich tauschten wieder Blicke und dann unsere Seiten aus. Und dann lasen wir schweigend weiter.

»Im Treppenhaus«, unterbrach uns der Alte noch einmal, »hat er ihr das Kuvert zugesteckt. Dort hat sie auf ihn gewartet, wollte ihn noch ein letztes Mal sehen. Das ganze Schloss, sagte sie, habe bereits nach Malzkaffee gerochen. Es war ein sonniger Morgen. Und sie haben ihn hinaus in den Hof geführt, an die Scheunenwand gestellt und erschossen. Und bis zuletzt habe es so ausgesehen, sagt sie, als ob er das, was mit ihm geschah, als ob er das alles nicht glauben könne, einfach nicht begreifen würde. Aber nun lag er da. Tot. Sein weißer Anzug war voller Blut. Und dann, ich sagte es ja schon, dann haben sie ihn verbrannt. Zusammen mit seinem schönen Auto. Ja, so war das!«

Die Frau hatte jedes Wort, jeden Satz ihres Mannes gespannt verfolgt, wandte den Blick nicht von seinen Lippen. Schließlich nickte sie zustimmend.

Bei dieser Gelegenheit gab die mühsam über die Stirn gekämmte Strähne den Blick auf ein dunkelrotes Feuermal frei. Dicht über dem linken Auge.


Der Spuk dieser uniformierten Schattenwesen war vorüber.
Vor mir lag freies Feld. Meine Scheinwerfer geisterten über Ackerland und ferne Baumgruppen.
Die Strasse wand sich in sinnlosen Kurven und war mit Schlaglöchern übersät.
Aus dem Radio kam nur noch dumpfes Rauschen. Schon eine ganze Weile vermutlich und auf allen Kanälen. Ich hatte nicht darauf geachtet.
Mein Handy war tot und fand keinen Sender.
Die Kassette, die ich in die Hand bekam, war eine uralte Aufnahme von >Pink Floyd<.
Ich drehte voll auf, um die Reste dieses ekelhaften Traumes zu verscheuchen. Denn mit der Realität konnte diese Begegnung kaum etwas zu tun gehabt haben.
Stress, Überarbeitung, seit drei Jahren keinen Urlaub, kein Wochenende ausgespannt, als liesse sich der Erfolg durch dreifachen Einsatz letzten Endes erzwingen.
Und jetzt begann mir meine Phantasie bereits Streiche zu spielen: Wachträume und Halluzinationen.
Wenn ich selbst schon unfähig war, meine Fluchtambitionen in die Tat umzusetzen – mein Gehirn tat es offenbar gründlicher und flippte aus.
Aber dann blockierten sie die Kreuzung, und das war kein Traum mehr.
Das war brutale Wirklichkeit.
Sie traten aus dem Schatten eines abgestellten Lastwagens.
Es war ein uraltes, fleckiges, graugrün gestrichenes Monster.
Ich sah sie deutlich und sekundenlang im Kegel meines Scheinwerfers.
Einer hob die Hand. An seinem Hals blinkte ein metallisches Emblem an einer Kette.
Der zweite zog den Kinnriemen seines Stahlhelms fester und hob seine Maschinenpistole.
Ich sah einen Feuerstoss aus der Mündung zucken. Hörte das kurze, scharfe Knattern.
Knirschende, metallische Schläge, splitterndes Glas. Die Lichter meines Wagens waren erloschen.
Absolute Dunkelheit ringsherum.
Mit schlitternden Reifen bremste ich. War wie blind. Blieb stehen. Würgte den Motor ab.
Plötzlich war mein Puls auf zweihundert.
Die Luft blieb mir weg.
Ein Krampf im Magen.
Also doch Krieg!
Wahnsinn, das alles!
Lange Augenblicke panischer Angst.
Dann tauchten diese uniformierten Wegelagerer neben mir auf.
Ich nahm nur die Umrisse wahr.
Ich ahnte die Mündungen von Waffen, die auf mich gerichtet waren. War wie gelähmt.
Und aus dem Lautsprecher plärrte Pink Floyd

Oppenheimer lachte. Es war ein nervöses Lachen. Der Wissenschaftler war verunsichert.

Er legte die letzten Blätter zur Seite. Er hatte schneller gelesen als wir und war mit der Lektüre durch.

»Ich glaube, den Rest könnt ihr euch sparen«, sagte er und stand auf.

Er trat ans Fenster, schob die schmuddelige Gardine hoch und schaute hinüber zum Schloss.

»Diese Feldgendarmen brachten ihn also hierher. Im Schloss hauste ein Bataillonskommandeur mit seinem Stab. Kommunikationsprobleme auf beiden Seiten. Unverständnis, Ratlosigkeit. Weder mit >Pink Floyd< noch mit einem blindgeschossenen >Landrover< konnten diese Barbaren etwas anfangen. Auch nicht mit den defätistischen Reden dieses Herrn. Seine präzisen Antworten auf die stereotypen Fragen nach dem >Woher< und >Wohin< gingen natürlich ins Leere. Eine bizarre Situation und für ihn absolut fatal.«

»Ich verstehe nichts!« Das war Lisas erster Kommentar, seit sie mit dieser Lektüre begonnen hatte. Jetzt blickte sie auf und sah mich fragend an.

»Da ist auch nichts zu verstehen, glaub mir, Lisa. Das Ganze ist unbegreiflich. Nimm es einfach als ein Spiel der Phantasie!«

»Ein Gedankenexperiment«, ergänze Oppenheimer, »aber ohne den beabsichtigten Effekt. Die versammelten Offiziere lauschten seinen Ausführungen mit der gleichen Verständnislosigkeit wie Bergpapuas einem Missionar, der von Erbsünde, Erlösung und Höllenstrafen faselt und sie vom Kannibalismus abbringen möchte. Schon aus Prinzip werden sie ihn töten!«

Er lachte wieder und wandte sich ab.

»Merkwürdig«, überlegte sich Lisa nach einer Weile, »dass ausgerechnet eine junge Frau das Ungewöhnliche an dieser Situation erkannte. Als einzige. Unter vielleicht Hunderten von Männern.«

»Oh nein, Lisa«, entgegnete ich. »Erkannt haben es alle. Sie haben nur unterschiedliche Konsequenzen daraus gezogen.«

Lisa folgte meinem Blick. Die alte Frau in ihrer Ecke hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und schien zu schlafen.


Plötzlich stand sie dicht neben mir, sie war aus dem Dunkel des Raumes getreten, wo ich sie bereits früher undeutlich wahrgenommen hatte.
Sie ergriff meine Hand, küsste sie und sank auf die Knie.
Sie war sehr jung, diese Frau, noch keine zwanzig.
Ein schönes, unschuldiges Gesicht.
Ein Mädchen, das offenbar aus der Gesindeschar des Schlosses übriggeblieben war.
Jetzt verharrte es in dieser Demutshaltung lange Augenblicke und sah mich an. Stumm und wie in Anbetung versunken.
Keiner der Anwesenden wagte zu lachen. Keiner unterbrach diese absurde Situation.
Die Offiziere wirkten wie erstarrt.
Meine Anwesenheit hatte sie bereits genügend verwirrt, meine authentische Schilderung ihrer allernächsten Zukunft überfordert.
Dass die Niederlage ihres Krieges unausweichlich, gleichzeitig aber der Neubeginn eines friedlichen Zeitalters des Wohlstands und des Glücks sein würde, das nahmen sie mir einfach nicht ab.
Konkrete Erfahrungen aus dem Dunkel der Zukunft sind eben nicht anwendbar.
Sie müssen fragwürdig bleiben, wie rätselhafte Orakelsprüche.
Allerdings hatte die Anwesenden, trotz aller Skepsis, eine dumpfe Ahnung erfasst, dass sich etwas Widernatürliches ereignet haben musste.
Der Kniefall dieser Frau vor einem menschlichen Wesen, das aus einer anderen Welt zu stammen schien, Frieden predigte, Hoffnungen weckte, schien das zu bestätigen.
Einer der Offiziere machte diesem peinlichen Spiel schliesslich ein Ende.
Mit Handschellen gefesselt wurde ich nach oben geführt. Eine Dachkammer mit zerbrochenen, unvernagelten Fenstern.
Ein Matratzenlager auf dem Fussboden.
Eine säuerlich stinkende Pferdedecke.
Der eisige Wind, der durch Fenster und Fugen wehte, wirbelte Staub und Dreck von den Balken auf mich herunter.
Wie lange ich in dieser Dunkelheit lag, weiss ich nicht mehr.
Langsam erstarb der Lärm, der vom Hof heraufdrang:
Rufe, Befehle und das Dröhnen schwerer Maschinen.
Was blieb, war das pausenlose Donnern ferner Detonationen.
Ich versuchte einzuschlafen, mit Atemübungen, Yoga und autogenem Training.
Schlafen um jeden Preis. Tief einschlafen und aufwachen, und dieser ganze Spuk, dieser ganze Alptraum ist vergessen.
Da spürte ich ihre Hand.
Es war eine kühle, raue, ängstliche Hand.
Und sie strich behutsam über meine Stirn.
Die junge Frau hatte mir Tee gebracht. Einen halben Blechnapf voll.
Und zwei Scheiben hartes, krümeliges Brot.
Sie kauerte neben mir, sah mich unverwandt an.
In dieser Finsternis ein schmaler Schatten gegen das hellere Quadrat des Fensters.
Sie versuchte, die Handschellen zu lösen.
Aber die rasteten nur eine Zahnung tiefer in die Haut meiner Gelenke.
Ich spülte einige Bissen Brot mit diesem faden, lauwarmen Tee hinunter und legte mich wieder zurück.
Da beugte sie sich vor, berührte mit ihren Lippen meine Stirn, meine geschlossenen Lider, meinen Mund.
Es war eine scheue, flüchtige Berührung.
Und dann fasste sie Mut. Sie kam näher, voller Vertrautheit. Kroch zu mir unter die Decke.
Ein Austausch von Wärme, von Zärtlichkeiten.
Ihre Finger suchten meine Haut.
Unser Atem vermischte sich.
Ich erwiderte ihre Küsse, die anfangs erschreckend unerfahren waren, kindlich, schüchtern und scheu, dann beherzter, mutiger, schließlich ungestüm, hitzig, wie rasend und mich fast erstickten.
Und ich lag da mit gefesselten Händen.
Nein, das war kein Gespenst, kein Traumwesen, kein Phantasiegebilde.
Ein lebendiger Mensch, der Wärme und Leidenschaft spendete.
In diesem Augenblick begrub ich meine Hoffnung, alles sei Trugbild und Täuschung.
Die Begegnung mit dieser Frau war der Beweis einer Realität.
Sie zerrte sich die Kleider vom Leib. Eine viel zu grosse Männerhose. Harter, grober Stoff. Strickjacke, Kunstseidenbluse.
Hastig, fast hungrig, tasteten ihre Finger über meinen Leib.
Lösten Gürtel, Reissverschluss. Sie war wie im Rausch. Bemüht, keine der kostbaren Sekunden zu verlieren.
Vergangenheit? Zukunft? Die Zeit, in der wir beide lebten, war unwichtig geworden.
Unsere Erfahrungen waren nichts mehr wert.
Dies hier war die einzige und elementare Form der Kommunikation über Länder und Epochen hinweg.
Nur dies hier war Gegenwart!
Sie hockte über mir. Mit gespreizten Schenkeln
Legte meine gefesselten Hände um ihren Nacken.
Ich spürte die Hitze in ihrem Körper. Ihre Besessenheit. Ihren hastigen, scharfen Atem.
Ihre stumpfen Nägel, die sich in meine Haut bohrten.
Ihr Aufbäumen. Mein Verströmen.
Und wie in Trance sank sie stumm und erschöpft neben mir auf dieses vor Schmutz starrende Lager.
In der Ferne röhrten die Kanonen.
Der Wind pfiff durch die zerscherbten Fenster.
Langsam beruhigten sich Herzschlag und Atem.
Sie stand auf, zog sich an.
Ebenso hektisch wie sie sich Minuten zuvor die Kleider vom Leib gerissen hatte. Und dann rannte sie fort.
Wir hatten kein einziges Wort miteinander gesprochen.

Schweigend fuhren wir durch diesen Wald. Die Fichten standen eng und düster in Reih und Glied. Die Straße war schlecht und für den allgemeinen Verkehr gesperrt: der alte Forstweg, die einzige Zufahrt zum ehemaligen Schloss.

Oppenheimer saß neben mir und studierte die Karte.

Die beiden Alten hockten hinten neben Lisa. Es hatte viel Mühe gekostet, sie zu dieser Fahrt zu überreden. Der Mann hatte den Brief in der Hand, das vergilbte Kuvert mit den losen Seiten:


An Frau Angela Hagen
Stieglitzweg 7
83620 Höhenrain

Als wir die Landstraße erreichten, hatten Feuerwehrleute den Baum zersägt, der letzte Nacht auf die Fahrbahn gestürzt war. Ein Abschleppwagen nahm gerade den beschädigten VW-Bus auf den Haken und blockierte die Straße. Wir mussten einige Minuten warten, bis man uns die Weiterfahrt freigab.

Die Dämmerung fiel über das Land, und wir erreichten die Ortschaft Höhenrain.

Wie ein Krebsgeschwür war das Neubaugebiet rund um den Kern des alten Dorfes gewuchert. Da standen sie nun, inmitten ihrer verstädterten Gärten, die konfektionierten Villen, die Reihenhäuser aus dem Baukastenset.

Dort war schließlich auch der Stieglitzweg zu finden. Vor dem Haus Nummer 7 blühten Forsythien. >HAGEN< stand auf dem kleinen Kupferschild neben dem Tor.

Erst nach dreimaligem Klingeln wurde geöffnet.

»Es ist niemand zu Hause!« Die beiden Mädchen zwischen acht und zehn musterten uns lange und mit großen Augen. Dann überwanden sie ihr Misstrauen und ließen uns ins Haus. Lange konnten sie noch nicht allein sein. Im offenen Kamin glomm ein Feuer.

Lisa schleppte die beiden Alten in das winzige Wohnzimmer mit den skandinavischen Möbeln. Bis auf das Spielzeug, das auf dem Boden verstreut lag, wirkte der Raum fast unbewohnt. Sterile Ordnung. Alles hatte hier seinen ihm zugewiesenen Platz: Zeitschriften, Vasen, Souvenirs, Aschenbecher. Auch ein Bild in einem weißen Rahmen. Eine Farbfotografie: die Familie Hagen im Garten. Vater, Mutter, die beiden Töchter, daneben die Großeltern. Zwanglos aufgebaut vor der Fassade des neuen Hauses. Der Einzug in den Stieglitzweg Nummer 7. So also sehen sie aus, die Bewohner.

Oppenheimer gab das Bild an Lisa weiter, die zeigte es schließlich den beiden Alten. Es dauerte eine Weile. Die alte Frau musste sich erst orientieren.

Dann stieß sie plötzlich einen überraschten, gutturalen Schrei aus, deutete auf den Mann in der Mitte des Bildes und bekreuzigte sich.

Und während der Alte nun mit seiner Frau eine mühsame Befragung begann, fuhr draußen im Schein der Straßenlaterne ein Streifenwagen der Landpolizei vor und hielt vor dem Haus. Eine Frau in mittleren Jahren stieg aus und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.


Angela, ich denke an dich, während ich diese Zeilen schreibe und die Verzweiflung in mir hoch kriecht.
Denn die Ruhe der Nacht ist mit einem Schlag vorüber. Das Schloss ist plötzlich voller Leben, voller Hektik, aber auch voller Panik, Angst und verzweifeltem Verteidigungswillen.
Polternde Schritte auf Treppen und Gängen. Überall Stimmen. Kein Zweifel mehr: Es ist Tag.
Der Posten hinter mir hat sich von seinem Biedermeiersessel erhoben und steht nun breitbeinig neben der Tür.
Als dieser Major mich um Mitternacht holen liess, glaubte ich noch an eine makabre Komödie: Hakenkreuzfahne an der Wand. Hitlerbild. Brennende Kerzenreste in weitausladenden, silbernen Leuchtern.
Die Offiziere ordensgeschmückt.
Die rechte Hand steif und verkrampft zum deutschen Gruss erhoben. Aufgesetzte, ernste Mienen. Eine albernen Show.
Einer von ihnen befestigte umständlich die Bänder einer Brille an seinen Ohren.
Dann las er flüssig vom Blatt:
Man habe meine Ausführungen geprüft und als irreal befunden.
Die von mir geäusserten Behauptungen seien jedoch geeignet, den Verteidigungswillen des deutschen Volkes zu schwächen und seien somit wehrkraftzersetzend.
Aus diesem Grund und im Namen des Führers ...
Zum Tode – und so weiter!
Sie unterschrieben alle. Reckten wieder die Hand zum Gruss. Und dann verliessen sie eilig den Raum mit den kostbaren Möbeln.
Einer gab mir Schreibpapier. Einen Stift besass ich selbst. Er brachte mich in ein Nebenzimmer, wo ich Zeit und Ruhe finden sollte, ein paar letzte Abschiedszeilen zu formulieren.
Frieden zu predigen, sagte er noch , sei zu allen Zeiten riskant gewesen. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Und das würde auch in Zukunft so bleiben. Dessen sei er sicher.
Damit verliess er mich.
Aber in eben dieser Minute ist er zurückgekehrt und hat mich aufgefordert, meinen Bericht abzuschliessen. Ich sollte mich bereitmachen. Es sei nun soweit.
Ich hoffe, dass diese Zeilen euch erreichen.
Heute – oder in fünfzig Jahren, was in diesem Fall möglicherweise das gleiche ist.
Ich grüsse euch alle, umarme dich, Angela und die Kinder.

Gabriel Hagen.

»Eine Nachricht für Sie!« Oppenheimer hatte dem alten Mann den Brief abgenommen, den dieser die ganze Zeit über steif und feierlich in den Händen hielt, und an diese übernächtigte, blasse Frau weitergereicht. Angela Hagen, geborene Hoermann, war nicht überrascht.

»Sie kennen die Schrift?« wollte Oppenheimer wissen.

»Natürlich!« sagte sie nur und nahm die Blätter aus dem Kuvert. Sie war bei der Polizei gewesen. Vermisstenanzeige. Aber bis zur Stunde fehlte jede Spur. Und ob sie dieser Bericht hier weiterbringen würde, war fraglich.

Aber dann lachte sie auf, laut und unbeherrscht, unterbrach die Lektüre bereits nach wenigen Zeilen.

»Mein Gott!« rief sie, »er ist ausgeflippt! Endlich ist es soweit! Seit Monaten redet er davon. Alles hinschmeißen, Ehe, Beruf und Familie. Abhauen von allen Verpflichtungen. Untertauchen. Auswandern. Irgendwohin. Kanada oder Neuseeland. Und jetzt hat er es also geschafft. Weiß Gott, wo er ist! Mich interessiert es nicht mehr. Er wird schon wiederkommen, wenn diese Laune vorüber ist! Ach ja, diese Männer in diesem Alter ...!«

Wieder lachte sie schrill, und bevor einer von uns eingreifen konnte, zerriss sie den ganzen Bericht in winzige Fetzen und warf sie auf die Glut des offenen Kamins.