Das Gelübde



Der Buddha sagt:
Der Narr redet und schwätzt.
Und der Weise schweigt!


I
ch bin ein unverbesserlicher Narr!
Ich rede und rede und schwätze und schreibe.
Ich erzähle Geschichten und nur manche sind wahr.
Geschichten wie diese:
Vom Mönch Sisya.
Der sein ganzes langes Leben hindurch einen Pfad durch den Felsen schlug.
Der einen Berg durchhöhlte.
Der einen Weg öffnete vom Himmel zur Hölle.
Es ist eine alte Legende. Und jeder der sie erzählt, erzählt sie anders.
Denn Legenden haben mit historischer Wahrheit ja nichts gemein.
Sie stammen aus den Träumen, den Wünschen, den Hoffnungen der Menschen und aus ihren Ängsten.
Und da sich die Zeiten und auch die Menschen ändern, ändern sich auch die Träume, die Wünsche, die Hoffnungen und die Ängste.
Daher müssen die Chronisten ihre Legenden immer wieder neu und immer wieder anders erzählen.
Sie müssen fortlassen, was vorbei ist, neu erfinden, was anders geworden ist, anders erwartet wird, anders erträumt und erhofft.
Sie müssen Glaubens-Erwartungen erfüllen.
Damit das, was sie zu berichten haben, nach ewiger Wahrheit klingt.
Was mich nun betrifft: Ich erzähle die Parabel von Sisya dem Mönch auf meine Weise.
Von einem Gelübde, das andere für ihn geleistet haben. Nicht er.
Vom Felsen, den es zu durchqueren galt.
Um das Leiden der Pilger zu mindern.
Und auch das Leid seiner eigenen Einsamkeit.
Denn 'Sisya' heißt Schüler.
Einer der erfahren will, der lernen will. Ein Leben lang.
Von ihm will ich berichten und von Himmel und Hölle.
Sartre sagt: Die Hölle, das sind immer die anderen.
Die auf der anderen Seite leben. Jenseits des Berges.
Für Sisya: Die Fremden, die Unbekannten. Also wir!
Der Buddha kennt keine Hölle, nur das Leid, hier und jetzt,
das es zu mildern und zu überwinden gilt.
So wäre denn die Hölle - die Welt in der wir leben.


Laotse sagt im Dao de Ching:
Der Raum zwischen Himmel und Erde
ist wie eine Flöte.
Er ist leer und fällt doch nicht zusammen.
Aus ihm kommt der Klang,
wo sich Worte erschöpfen.


F
ür Sisya stand zwischen ihm und der Welt, zwischen Himmel und Erde, ein gewaltiger Berg. Ein Felsmassiv von unendlicher Höhe, das ihn von allen Seiten, von allen Richtungen des Windes umgab.
Und irgendwo, weit entfernt, jenseits des Berges, hinter dem Felsmassiv, lag das für ihn Unbekannte. Lag das Leben der anderen.
Der Himmel, das war ein enges, karges Tal. Von kahlen Wänden begrenzt, die fast in die Wolken reichten.
Nur für wenige Stunden um die Mittagszeit, und auch das nur im Sommer, erreichte das Licht der Sonne den schmalen Bach am Boden des Tals, der auf magische Weise zwischen den Felsen entsprang und auf ebenso magische Weise wieder versiegte.
Von seiner Quelle bis zum Ort seines Verschwindens waren es kaum tausend Schritte. Das Ufer war begrünt von niederen Büschen, einem Feld mit wilder Gerste und einem Acker mit Süßkartoffeln. Der Rest war eine schüttere Aue, die von einer Ziegenherde abgeweidet wurde.
Zweiunddreißig Stufen waren in den Felsen geschlagen, glattgetretene, schmale Tritte, die führten hinauf zum Tempel-ohne-Namen. Wie ein Schwalbennest hing er am Berg.
Silbergrau gebleichte, knorrige, unbehauene Stämme uralter Eisenbäume, die dem Tal einst Schatten gaben in der kurzen Mittagshitze, ragten aus dem Felsen, trugen das Dach mit den blauglasierten Ziegeln und den Drachenköpfen, die offene, hölzerne Terrasse und den Vorraum.
Alle anderen Räume des Klosters hatten die Mönche aus dem Felsen geschlagen. Auch die Nische, die im hintersten Winkel den von Grünspan überzogenen, kupfernen Buddha beherbergte.
Er war nicht groß, dieser Buddha, keinen halben Meter hoch. Mit geschlossenen Augen saß er auf einer stilisierten Lotosblüte, die eine Hand zum Himmel geöffnet, die andere zu Erde, die er damit zum Zeugen aufrief.
Vor ihm brannte in einer gewaltigen, gusseisernen Schale das ewige Feuer.
Zu beiden Seiten hing je ein verblichenes Rollbild aus Pergament mit jeweils sechs Schriftzeichen: Ein Spruch, ein Zitat, ein Gedanke. Darüber: ein alter, bärtiger Mann reitet auf einem schwarzen Büffel, eine im Stil des Zen locker hingetuschte Figur:
Die Zeichnungen waren auf beiden Bildern identisch. Nur einmal trabte der Büffel von links, einmal von rechts auf den Beschauer zu.
Den alten bärtigen Mann und seine Weisheit würde Sisya später kennen und begreifen lernen.
Unterhalb der beiden Bilder standen die schmalen, hohen Messinggefäße mit den Orakelstäben.
D
ie Pilger, die den mühsamen, gefährlichen Weg über den Berg zu diesem einsamen, abgeschlossenen Tal, zum Tempel-ohne-Namen auf sich nahmen, kamen aber nicht, um das Orakel zu befragen. Sie kamen um Heilung zu suchen. Denn diesem grünen Buddha wurden geheime Kräfte nachgesagt.
Aber was da heilte von den vielerlei Leiden, von denen die Menschen im kalten Norden von Hokkaido heimgesucht wurden, war nicht nur der Glaube.
Die Mönche verfügten über großes Wissen, kochten Tee aus den zahllosen Pflanzen, die auf dem Talboden und an den Berghängen wuchsen, und sie wussten die Nadeln zu setzen.
Die Pilger brachten Geschenke, schleppten soviel sie nur tragen konnten in diese entlegene Einsamkeit. Dort stapelten sich die Gaben in einem eigens dafür ausgewählten Raum und wurden nur höchst selten angetastet.
Der Buddha aber sagt,
ihr müsst die Gier bekämpfen,
die Gier nach Macht und Ruhm,
die Gier nach Besitz und Lust,
und ihr werdet frei sein.


In früheren Zeiten war das Kloster mit seinen kargen, kalten Zellen, diesen engen, feuchten, Nischen, bisweilen von mehr als zwanzig Mönchen bewohnt.
Die bestellten die Felder, kümmerten sich um die Ziegen und übten sich in Askese und Bedürfnislosigkeit.
Aber zu dem Zeitpunkt, da unsere Geschichte beginnt, lebte nur noch ein einziger von Ihnen, suchte Kräuter und Blüten und trocknete sie, grub nach heilkräftigen Wurzeln und Steinen, melkte die Ziegen, meditierte vor dem grünen Buddha, schlief auf seiner Matte neben dem Feuer und wartete auf Pilger.
Aber die Schar derjenigen, die statt moderner Medizin dem alten Wissen und dem Glauben vertrauten, und die den beschwerlichen Weg über den schroffen Berg hinweg in das enge, abgelegene Tal auf sich nahmen, hatte über die Jahrzehnte hinweg ständig abgenommen.
E
s war noch früh im Jahr. Der Schnee war geschmolzen und das Eis an den Flanken des Bachs weggetaut.
Nun strömte der Regen seit Tagen. Die Gipfel der Berge waren verhüllt von tiefhängenden, schwarzen Wolken und ein kalter, feuchter Wind fegte durchs Tal.
Da tastete sich bei einbrechender Dämmerung ein junges Paar den schmalen, gewundenen Pfad auf der gegenüberliegenden Hangseite herab. Langsam. Schritt um Schritt.
Der abschüssige, lehmige, ausgewaschene Weg war steil und die Steine waren glatt. Der Mann stützte die Frau, die ein schweres Bündel auf dem Rücken trug.
Sie erreichten schließlich die Talsohle, wateten durch den aufschäumenden Bach, der über die Ufer getreten war, und begannen den Aufstieg über die zweiunddreißig steilen Stufen, hinauf zum Tempel-ohne-Namen.
Der alte Mönch hatte sie kommen sehen, hatte sie, seit sie aus dem grauen Nebel tauchten, mit Furcht und mit Hoffnung beobachtet und für ihre sicheren Schritte gebetet.
Es war ein ärmlich gekleidetes Paar und sie wirkten beide hungrig und verzweifelt. Als sie die Terrasse erreichten, verneigten sie sich tief. Auch der alte Mönch verneigte sich, ohne sich zu erheben.
Er legte die Handflächen aneinander, berührte mit den Fingern seine Stirn und hieß sie willkommen.
Er schöpfte heißes Wasser aus dem Kessel über dem Feuer und bereitete Tee.
Die beiden tranken schweigend und erschöpft.
Dann nahm die Frau das schwere Bündel von ihrem Rücken und wickelte es aus. Das Kind schien zu schlafen.
Es war blaß und schmächtig, dieses Kind, und die Frau sagte, es sei sehr krank. Die Ärzte hinter den Bergen hätten es bereits aufgegeben.
Und sie begann zu weinen.
Auch der Mann weinte und wandte sich ab.
Der alte Mönch betrachte lange das Kind, fühlte seinen Puls, öffnete leicht den kleinen Mund und betrachtete die Zunge. Er brannte ein Pulverhütchen auf der Brust des Kindes ab und fächelte ihm den Rauch zu.
Da öffnete das Kind die Augen.
Es ist ein Knabe, sagte die Frau. Unser einziges Kind.
Der alte Mönch nickte nur, ging in den hinteren Raum der Höhle, suchte in einigen der hundert kleinen Schubladen eines schwarzen, wurmstichigen Schrankes getrocknete Kräuter und gemahlene Steine , warf alles in einen Topf und goss kochendes Wasser darüber.
Wieder fühlte er den Puls des Kindes, das ihn mit großen, fiebrigen Augen ansah, glühte Nadeln aus in der Glut, ließ sie abkühlen, und bohrte sie vorsichtig an sorgsam ertasteten Punkten in die Muschel der winzigen Ohren. Zwei Nadeln links, drei rechts.
Das Kind weinte nicht, obwohl die Prozedur ihm Schmerzen bereiten musste.
Der Sud kochte auf dem Feuer und verbreitete einen herben, aromatischen Duft. Weitere Pflanzen, getrocknete Blüten, Rindenstücke und Wurzeln landeten nach und nach in der sich dunkelbraun färbenden Brühe,.
Dann nahm der alte Mönch alles vom Feuer und stellte das Gefäß, um es abzukühlen, hinaus in den Regen.
Unten im Bach schöpfte er frisches Wasser in einen gegerbten Ziegenbalg und schleppte ihn langsam die zweiunddreißig Stufen wieder herauf.
Er wickelte das Kind aus den Tüchern und schütte das eiskalte Wasser über den kleinen, schmächtigen, sich aufbäumenden Körper. Das Kind blieb stumm. Kein Schrei, kein Weinen. Keine einzige Träne.
Was fehlt ihm, fragte die Frau, die das alles mit Sorge und Unverständnis beobachtet hatte. Aber der alte Mönch schwieg. Er rieb die Haut des Kindes ab, bis sie sich rosa färbte, hüllte es ein in eine grobe Decke aus Ziegenwolle und begann ihm den Tee einzuflößen.
Das Kind trank, schluckte den vermutlich gallenbitteren Absud still und mit apathischem Gleichmut und wandte den Blick aus seinen großen Augen nicht von diesem alten Mönch.
Zwei Jahre ist es alt, sagte die Frau.
Der alte Mönch nickte nur.
Da begann der Mann zu klagen, wie lang und steil und gefährlich der Weg über den Berg gewesen sei. Zwei volle Tage seien sie nun unterwegs. Und wenn das Kind stürbe, sei alle Mühe, alle Strapaze umsonst gewesen.
Es sterben lassen, sagte der Mann, das hätte man ja auch drüben tun können, auf der anderen Seite, jenseits des Berges. Niemand hätte ihm gesagt, wie beschwerlich der Weg sei. Und sie müssten ja auch wieder zurück. Zwei volle Tage auf diesem steilen, gefährlichen Pfad, entlang der abgrundtiefen Schluchten, unter drohenden Felswände, vorbei an donnernden Wasserfällen. Und in diesem strömenden Regen.
Wieder nickte der alte Mönch, brachte Ziegenmilch und hartes Fladenbrot für die Eltern und Matten für die Nacht und kümmerte sich weiter um das Kind.
Ob es nicht einen anderen Weg gäbe, in dieses entlegene Tal, und auch wieder hinaus, fragte der Mann.
Der alte Mönch verneinte.
Aber dann sprach er: Man sollte einen Weg schlagen durch den Berg, sagte er, eine Höhle. Von hier nach drüben. Er sei zu alt dafür. Aber nach ihm würde einer kommen, der das auf sich nehmen würde. Dann könnten die Pilger und die, die Heilung suchen, durch den Felsen zu diesem grünen Buddha kommen, zu diesem Tempel-ohne-Namen. Dann sei es nur noch ein kurzer Weg, wie vom Himmel zur Erde.
Da sagte die Frau, sie hätten nichts anderes. Kein Geld. Keine Geschenke. Aber wenn das Kind gesund würde, dieser Knabe, dann würde er diesen Pfad durch den Felsen schlagen. Irgendwann. Wenn er groß und stark sei. Sie meine das sehr ernst. Und das sei ein Gelübde.
Und da sie es sehr ernst meinten, alle beide, die Frau und der Mann, schrieb der alte Mönch das Gelübde auf ein Stück Reispapier. Das warfen die Eltern des Kindes auf das ewige Feuer und verrieben den aufsteigenden Rauch auf ihrer Stirn.
Das geschah im Antlitz des kupfergrünen Buddha, der die Augen geschlossen hielt vor dem Leid dieser Welt.
Und damit war das Gelübde - im Namen eines unschuldigen, todkranken Kindes, das keinen Widerspruch einlegen konnte - für immer und ewig geleistet.
A
ls die Nacht vorüber war, hatte der unendliche Regen aufgehört. Die letzten schwarzen Wolken hatte der Wind vertrieben. Die Sonne, die irgendwo weit hinter den Bergen aufgegangen war, tauchte die Felsspitzen hoch über dem Tal in strahlendes, gelbrotes Licht.
Ein Tag brach an von geradezu unglaublicher Klarheit. Und als der alte Mönch seine Meditation beendet hatte, blickte er sich um.
Die Frau und der Mann waren aus dem Tempel-ohne-Namen ohne Abschied verschwunden.
Der alte Mönch sah noch, wie sie auf dem steilen Pfad, am Hang gegenüber, eilig nach oben strebten.
Er hielt sie nicht auf, rief ihnen nicht nach. Denn die unglaubliche Stille über dem Tal durfte er nicht stören
Das Kind hatten sie ihm zurückgelassen.

Laotse sagt im Dao de Ching:
Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.
Stille heißt Wendung zum Schicksal
Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.
Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.

Das Kind wurde gesund. Der alte Mönch hatte es gepflegt, Tag und Nacht, und er nannte es 'Sisya'.
Das bedeutete in der Pali-Sprache der Priester und Mönche, einer, der noch lernt. Einer, der noch lernen muß zu begreifen und zu verstehen. Einer, der sich beugen muß vor der Erkenntnis und der ewigen Wahrheit. Einer, dessen Karma noch rein war und noch nicht belastet von Lust und von Leid.
Sisya
, also. Denn dieses Kind würde viel zu lernen haben.
A
ls Sisya alt genug war um zu hören und zu begreifen, hob der alte Mönch seine geöffnete rechte Hand und verkündete dem Kind die vier edlen Weisheiten des Buddha: Das Dasein des Menschen, so sagte der alte Mönch, sei unablässiges Leiden.
Der Grund dafür sei das unstillbare Verlangen nach den Gütern dieser Welt, nach irdischer Lust und nach den Genüssen des Lebens. Nur wer das Verlangen besiegt, besiegt auch das Leid. Der Weg dazu, und damit senkte der alte Mönch wieder die Hand und wies auf die Erde, sei der edle, achtfache Pfad: Die rechte Sicht der Dinge, die rechten Gedanken, die richtigen Worte, das richtige Tun im täglichen Leben, das richtige Wünschen und Wollen, die rechte Aufmerksamkeit und das rechte Sich-Versenken.
Sisya blieb stumm. Er hörte zu. Tag um Tag lernte er seine Lektion in steter Wiederkehr. Er lernte zu meditieren. Stunde um Stunde saß er mit verschränkten Beinen und mit unverwandt geöffneten Augen vor dem Bildnis des Buddha, dem Erleuchteten Schakjamuni, dem angebeteten Einsiedler und Asketen.
Wenn er schläfrig wurde, schlug ihm der alte Mönch, der stets wach und aufrecht hinter ihm saß, mit einem schmalen, flachen Brett aus Zedernholz leicht auf die Schulter.
Manches Mal zitterte Sisya vor Kälte, denn das Hemd aus Ziegenwolle, das er im Sommer wie im Winter trug, war dünn und draußen im Tal fiel der Schnee in dichten, wirbelnden Flocken.
S
isya lernte begreifen, dass sein Dasein in diesem Tempel-ohne-Namen, in diesem engen Tal und fern einer Welt voller Leben und Verlangen, durch ein Ereignis entstanden war, das zwangsläufig so und nicht anders vorhergesehen war.
Sein Dasein war vergänglich, wie auch der von ihm erlebte, enge, begrenzte Lebensbereich in diesem bereits vom Verfall gezeichneten Tempel-ohne-Namen.
Sisya übte sich in Versenkung und Selbstentäußerung. Er reparierte das Dach, melkte die Ziegen, schleppte Wasser vom Bach herauf, bestellte den Acker mit den Süßkartoffeln, drosch die Körner aus der geernteten Gerste, die der alte Mönch dann zwischen den Steinen der Handmühle zu Mehl zerrieb, und er meditierte, wenn es an der Zeit war, und der alte Mönch es ihm sagte. Er erfuhr auch, dass es im Lauf der unendlichen Zeit auch eine unendliche Zahl von Buddhas, von Erleuchteten, Erweckten und Erlösten geben wird, weil jeder Gläubige im Verlauf seiner zahllosen Wiederverkörperungen, nach dem Gesetz des Karma, seiner in zyklischen Wiederholungen aufscheinenden Existenzen, schließlich zu einem Buddha werden kann.
W
er ist der alte Mann auf den Bildern, zur Rechten und zur Linken des Buddha. Der alte Mann mit dem weißen Bart, der auf dem großen Tier reitet? fragte Sisya.
Der alte Mann, der auf dem Büffel reitet, ist Laotse, ein Weiser aus China. Er ist auf seinem Weg über tausend Berge und durch tausend Täler um in Indien den Buddha zu treffen.
Ob er ihn jemals traf, ist ungewiss. Denn die Reise war viele hundert Tage lang und Laotse ist nicht zurückgekehrt in seine Heimat.
Auch trennten ihn vom erleuchteten Boddhisatva mehrere Jahrhunderte. Aber was ist schon Zeit?
Was steht dort geschrieben, wollte Sisya wissen. Auf den beiden Bildern. Mit dem Mann und dem Büffel?
Jeweils zwei senkrechte Reihen mit jeweils drei Schriftzeichen schienen der Inhalt eine geheime Botschaft zu sein.
Es ist Chinesisch und es ist kein Geheimnis, verriet der alte Mönch. Es sind Gedanken des weisen Laotse aus seinem Buch über den Sinn des Lebens, dem Dao de Ching:

Was wahr gesprochen wird,
ist nicht schön.
Und was schön gesprochen wird
ist nicht wahr.


I
st die Wahrheit nicht schön? fragte Sisya.
Und ist das Schöne nicht wahr?
Die Menschen schmeicheln einander, sagte der alte Mönch.
Und die Wahrheit schmerzt und bereitet ihnen Leid.
Daher die Unwahrhaftigkeit.
Die ihnen allerdings noch mehr Leid beschert.
Und dort, auf dem anderen Bild? Was steht da? wollte Sisya wissen.


Der Kluge
ist nicht gescheit,
und der Gescheite
ist nicht klug,


D
u bist aber doch gescheit und du bist klug, sagte Sisya zum alten Mönch. Was ist falsch daran, klug und gescheit zu sein?
Gescheit sein, sagte der alte Mönch, heißt an den eigenen Vorteil denken. Was dem einen ein Vorteil, ist dem anderen ein Schaden, der Kluge, der Weise, lebt zum Vorteil anderer und stellt sich selbst zurück. Denn je mehr er für andere tut, desto mehr besitzt er selbst.
Du stellst dich selbst zurück, Meister? Immerzu? Und in allem was du tust und denkst?
Ich bemühe mich darum, sagte der alte Mönch. Und ob es mir gelingt, mein Karma wird es zeigen.
Er stand auf und ging zu der alten, wurmstichigen Kamphertruhe, die zum Schutz vor Mäusen und Ratten an einem dicken, schwarzen Tau aus geflochtenem Sisal von der Decke hing. Der alte Mönch löste den Knoten und ließ die Truhe herab.
Er nahm die beiden Bücher heraus, die in Tücher gewickelt in der Truhe lagen.
Es waren die Worte des Buddha und das Dao de Ching des Laotse.
Jedes der Bücher war in einer anderen Schrift geschrieben und in jeweils einer anderen Sprache verfasst.
Der alte Mönch schlug das Dao de Ching auf, blätterte sorgsam von Seite zu Seite, und er suchte lange.
Als er fand, was er suchte, zeigte er Sisya die sechs Zeichen, den Spruch vom rechten Bild.
Dann suchte er weiter und zeigte ihm den Spruch von der linken Seite des Buddha.
Sisya verglich die komplizierten Zeichen, die einmal von einem Kopisten locker hingetuscht waren, auf dem Bild jedoch in kaligraphischer Perfektion erschienen.
So begann Sisyas Studium einer fremden Schrift, einer fremden Sprache und er beschloss den tausend Gedanken eines weisen Mannes zu folgen.
Die Lehre des Buddha, das zweite Buch, schmückte ein Bildnis des heiligen Mannes. Die Augen halb geschlossen und die rechte Hand lehrend erhoben, schien er entrückt in voller Erhabenheit über alles Irdische.
Krause Schriftzeichen in Sanskrit, völlig anders als im ersten Buch, verkündeten die Predigten des ‘Gautama’, des Erleuchteten, in der Sprache des Magadhi, in Pali also: Einsichten, Erkenntnisse und ethische Vorschriften.
Da wurde es Sisya ganz heiß ums Herz. Er musste erfahren, was da geschrieben stand, er musste lernen, was Buddha und Laotse ihm zu sagen hatten. Er musste die Rätsel lösen, die sich hinter geheimnisvollen Schriftzeichen verbargen.
Und er machte sich an die Arbeit.
Es war eine Arbeit von Jahren.
Die Zeit rann an ihm vorüber wie das Wasser im Bachbett unten auf der Sohle des Tals.
Ungewiss war, woher es kam - ungewiss auch wohin es versiegte. Nur das Gleichmaß des Fließens, über Kiesel und Felsen hinweg, zwischen Eis und winterlicher Erstarrung und inmitten der blühenden Vielfalt des Sommers, schien ewig zu sein.
S
isya erfuhr, dass er durch Gedanken und Taten imstande sei, sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu lösen, und die Bemühung um ein endgültiges Erlöschen, das Eingehen in das Nirwana, das höchste Ziel seines Daseins sei. So kämpfte er um Erlösung, noch lange bevor er das Leben, das er lebte, verstanden und angenommen hatte.
Erstaunt und zutiefst bewegt sah der alte Mönch Sisyas Begeisterung, diese Glut, diese Leidenschaft beim Studium der heiligen Bücher. Er war ergriffen vom Fortschritt, den sein Schüler täglich, stündlich machte, und er war überzeugt, dass ihm in Sisya die Reinkarnation eines Erleuchteten, eines Buddha, gegenüber saß.
H
in und wieder, immer seltener, kamen Pilger und suchten Heilung. Sisya unterbrach seine Studien und sah zu, wie der alte Mönch die Kranken kurierte. Sisya bereitete den Tee, die Abkochung der Kräuter und Wurzeln nach uralten Rezepten, lernte die Nadeln an Nervenpunkte zu setzen und am Pulsschlag und an der Färbung und Kerbung der Zunge die Krankheiten zu erkennen, die sich dahinter verbargen.
Wenn die Pilger dann über die Strapazen klagten, die ihnen der lange, steile, gefährliche Weg über den Berg bereitet hatte und über die Angst vor dem mühevollen Rückweg sprachen, verriet ihnen der alte Mönch, dass einer kommen würde, der einen Weg durch den Berg, durch den Felsen schlagen wird. Und wie zur Bekräftigung hob er dabei leicht die rechte, offene Hand.
Der Buddha aber sagt:
Nur wenige werden den Mut haben
und die Kraft,
den Fluss zu durchschreiten,
Viele werden zurückbleiben
und ziellos herumirren am Ufer.
Die aber, die Kraft hatten und Mut,
denen gehört die Erkenntnis.

D
a betrachtete der alte Mönch seinen Schüler Sisya und er sah, dass dieser nun alt genug war, gesund und kräftig, und er erklärte ihm, dass er es sei, Sisya, der einen Pfad schlagen würde, durch den Berg, zur anderen Seite, zur Welt dort draußen. Und er berichtete ihm von dem Gelübde, das ihn zu dieser Tat verpflichtet.
Ein Gelübde ist ein Schwur, sagte Sisya dem alten Mönch, als beide lange und schweigend die Felswand gegenüber betrachtet hatten, die schroff und steil und unbezwingbar bis in den Himmel zu führen schien. Der Buddha aber hat gesagt, du sollst nicht schwören. Denn deine Rede sei stets ernsthaft und wahr, wandte Sisya ein.
Deine Rede sei stets wahrhaftig ohne Wenn und Aber und ohne Ausflucht, das ist richtig, und daher bedarf es keines Eides zur Bekräftigung.
Aber ein Eid ist kein Gelübde, sagte der alte Mönch. Ein Gelübde ist ein Versprechen. Und ein Versprechen kann man nicht brechen.
Auch ein Versprechen das man selbst nie gegeben hat? fragte Sisya dagegen.
Auch ein Versprechen, das andere für einen gegeben haben, als man noch unfähig war, es selbst zu geben. Christenmenschen lassen ihre neugeborenen Kinder mit Wasser segnen. Auch das ist eine Art Gelübde im Namen des unmündigen Kindes. Und das Kind hat nur die Wahl, das Gelübde anzunehmen und nach ihm zu leben. Oder es bricht ein Versprechen.
Da nickte Sisya, suchte unter dem rostigen Werkzeug, mit denen die Mönche einst den Tempel-ohne-Namen erbaut und in den Berg getrieben haben einen schweren Hammer und einen noch schwereren Meißel, ging die zweiunddreißig Stufen hinunter zum Bach, durchschritt ihn, trat an die Felswand und machte sich an die Arbeit.
A
ls er mit ganzer Kraft auf den Meißel schlug, den er im spitzen Winkel gegen den Stein gestemmt hatte, ging ein schmerzvoller Schlag durch seinen ganzen Körper.
Ein Splitter sprang vom Felsen ab. Nicht viel größer als der Nagel seines Fingers.
Wieder schlug Sisya zu und wieder schien ihn der Schmerz zu betäuben.
Da kam unbeherrschte, unbekannte, eine bisher unerlebte Wut in ihm hoch.
Schlag um Schlag dröhnte es durchs Tal, kam vielfältig als Echo zurück. Und Splitter um Splitter schlug der Meißel aus dem Felsen.
Nach Stunden, als Sisya sich erschöpft und entmutigt die zweiunddreißig Stufen nach oben, zum Tempel-ohne-Namen quälte, hatte er dem Berg nur eine unbedeutende Scharte zugefügt. Kaum sichtbar. Der Bemühung und des Aufwands nicht wert. Auch nicht des Schmerzes.
Der alte Mönche nahm Sisyas Hände, betrachtete die Schwielen und die blutigen Blasen und sagte, wenn du das Wasser durchschreiten willst, werde zu Wasser, wenn du Bambus malen willst, werde zu Bambus, wenn du den Berg bezwingen willst, werde zum Berg.
Sagt das der Buddha? fragte Sisya.
Vielleicht hat er es gesagt, vielleicht ein anderer.
Aber wenn du den Felsen zerbrechen willst, dann werde zum Felsen!
I
n den folgenden Tagen, Wochen und Monaten mischten sich bei Sisya in die Gefühle des unmittelbaren Schmerzes, der Niedergeschlagenheit, der absoluten Entmutigung und Erschöpfung am Ende eines harten Tages im Kampf gegen den Felsen auch ketzerische Gedanken über die praktische Anwendbarkeit von göttlichen Ratschlägen, von weisen Sprüchen, von philosophischen Erkenntnissen greiser, erleuchteter Männer, die ihre Tage sitzend mit Denken und nicht mit schmerzhaftem Tun, mit Hammer und Meißel verbrachten.
Hoch über dem Tal, auf der Veranda des Tempels-ohne-Namen unter dem Dach mit den glasierten, blauen Ziegeln und den bizarren Majolika-Drachen scheinbar meditierend, beobachtete der alte Mönch den Fortgang der Arbeiten.
Die Scharte im Felsen erhielt Schlag um Schlag um Schlag die Kontur eines aufrecht gehenden Mannes, und als der Sommer zu Ende ging, war Sisyas schmächtige Gestalt in der aus dem Berg gebrochene Nische zur Gänze verschwunden.
Der Schutt, die herausgeschlagenen Splitter aus graugrün-schimmernden Granit, türmte sich am Rande des Bachbetts und änderte ständig seine Farbnuancen, seinen Glanz, seine Konsistenz, nach den jeweils erreichten Gesteinsschichten, nach den Adern die den Berg durchzogen, helles, weißliches Quarz, rötliche Eisenoxyde, blaugrüne Kupfer-verbindungen, dann wieder nur Graugrau in ermüdender Eintönigkeit.
Sisya hatte inzwischen gelernt, den Meißel so anzusetzen, dass der Schlag mit dem Fäustel nicht seine Hand vibrieren ließ, was in der ersten Zeit, der mangelnden Erfahrung wegen, jedes Mal einen unerträglichen Schmerz durch alle Gelenke und Knochen jagte, bis hinauf in den Kopf und hinter seine Stirn.
Er hatte gelernt seine Kraft zu dosieren, seine ungestüme Wut zu bändigen, seine Ungeduld zu beherrschen.
Zehn Schläge - dann Pause.
Nach einhundert Mal zehn Schlägen viele große Schlucke Wasser aus dem Ziegenbalg, ein Stück Fladenbrot und einige Bissen vom luftgetrockneten, gesalzenen Ziegenfleisch.
Das war hart, schwarz und faserig. Daran kaute er dann die nächsten einhundert Mal zehn Schläge.
Abends sammelte er die Splitter ein und die losgeschlagenen Gesteinsbrocken, trug alles in einen ledernen Sack hinaus aus der Nische und schüttete es ins Bachbett.
Dort schlug er sein Wasser ab, atmete tief die frische Luft, die nach den Kiefern roch, oben am Hang, nach Schnee, nach Sommerblumen, nach Herbstlaub - was ist schon Zeit?

Der Buddha aber sagt,
alles Leben ist Leiden.
Geburt ist Leiden und auch das Alter.
Krankheit ist Leiden und auch der Tod.
Verzweiflung, Kummer, Schmerz und Unglück,
all das ist Leiden
und auch der Gram über Verlust,
Verlust derer die wir lieben
und Verlust derer, nach denen wir uns sehnen.


A
us der Nische wurde eine Höhle und Sisya arbeitete, je tiefer er vordrang, im Dämmerlicht, schließlich im Schein einer Fackel aus Ziegentalg.
Auch in der Dunkelheit der Höhle verlor er nicht sein Gefühl für den Tag dort draußen.
Rechtzeitig zur Abendmeditation stieg er matt und erschöpft die zweiunddreißig Tritte hinauf zum Tempel-ohne-Namen. Dort verneigte er sich vor dem alten Mönche, der den Tee bereitet hatte und den Brei aus Gerstenmehl, Süßkartoffeln und Ziegenmilch, und der sich seinerseits vor Sisya verneigte.
Denn nur ein Erleuchteter und Erlöster konnte ohne zu klagen diese Strapaze auf sich nehmen, den Berg besiegen zu wollen.
D
ie Nacht war kurz und meistens bitterkalt. Das Klagen der Bergdohlen kündete den frühen Morgen.
Der alte Mönch und Sisya meditierten gemeinsam vor dem grünkupfernen Buddha, bis das Tageslicht die Nische erreichte und man den greisen Laotse auf seinem Büffel und die Schriftzeichen darunter erkennen konnte.

Der Kluge ist nicht gescheit,
und der Gescheite ist nicht klug.


Sisya melkte die Ziegen, kümmerte sich um das Feld, aß, was der alte Mönch bereitet hatte, und ging an die Arbeit.
Seine Arbeit.
Er entzündete die Fackel am ewigen Feuer vor dem Bild des Erleuchteten, stieg die zweiunddreißig Stufen hinunter, schöpfte Wasser aus dem Bach in den Ziegenbalg und verschwand in seiner Höhle.
Tag um Tag. Jahr um Jahr. Denn das Gelübde musste erfüllt werden.
Viel Zeit blieb ihm nicht für das Studium der heiligen Bücher.
Er hatte auch aufgehört darüber nachzudenken, wie mächtig ein Berg sein kann, ein Berg wie dieser.
Und wie lang eine Höhle sein würde zur anderen Seite.
Er hatte aufgehört darüber zu spekulieren, wie denn das Leben jenseits des Berges sei, das ihn erwartet.
Er hatte aufgehört über den Sinn dieses Daseins zu sinnieren. Sein Dasein und sein Tun waren ihm Sinn genug.

Der Buddha aber sagt:
Werde niemals das Opfer
von Zweifel und Irrtum.
Denn der Zweifel macht dich unsicher,
und der Irrtum
verstellt dir den rechten Weg.
Wie sollst du da
den erleuchteten Pfad finden,
der dich zur Erlösung führt?


S
isya sah die Fremden schon von weitem, als er den Bach durchschritt: Ein älteres Paar und eine junge Frau. Sie standen am Rand der Veranda und blickten zu ihm herunter.
Vielleicht hatte der alte Mönch von ihm erzählt, und von dem Weg, den er für die Pilger durch den Felsen schlägt.
Vielleicht hatten sie geklagt, so wie alle anderen auch, über die Beschwerlichkeit und über die Gefahren des Pfades über den Berg, der kaum noch zu erkennen, kaum noch zu finden war. Zugewuchert, verschüttet. Da er kaum noch begangen wurde.
Sisya verneigte sich, als er am Tempel angekommen war, und die Fremden verneigten sich vor ihm.
Es waren Eltern mit ihrer Tochter.
Sie hatte vor drei Jahren geheiratet und bis heute kein Kind bekommen. Jetzt hatte ihr Mann sie verlassen.
Es war eine schöne junge Frau. Niemals zuvor hatte Sisya eine so schöne junge Frau zu Gesicht bekommen. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihr zu wenden.
Sie trank gleichmütig den bitteren, dunklen Tee, den der alte Mönch ihr aus zahllosen Kräutern und Wurzeln bereitet hatte. Anschließend setzte er die Nadel auf Hautpartien, die sie schamhaft, nur zögernd, und nur jeweils eine knappe Handbreite entblößte. Lange lag sie auf ihrer Matte vor dem grünkupfernen Buddha und atmete gleichmäßig mit geschlossenen Augen, während ihre Eltern sie leidvoll betrachteten.
Es waren einfache Leute, Bauern von einem entfernten Tal, und sie hatten viele Geschenke mitgebracht, die Sisya entgegennahm und hinten im Tempel verstaute.
Es waren Blechbehälter mit geheimnisvollen Aufschriften, die er nicht entziffern konnte. Unbekannte Nahrungsmittel waren darauf abgebildet. Dazu kam ein kleiner Sack mit Reis.
Die Leute schwiegen zumeist, auch der alte Mönch. Aber als sie redeten, konnte Sisya ihre Sprache nicht verstehen. Es war nicht die Sprache des Laotse und nicht die Sprache des Buddha, die er in Gesprächen mit dem alten Mönch benutzte und auch in seinen Gebeten.
Sehr selten, immer seltener, waren Pilger gekommen. In manchen Jahren kein einziger. Aber nie war es ihm so deutlich geworden, dass er die Sprache der Fremden nicht verstand.
Sisya rollte die Matten aus, für die Gäste, denn sie blieben über Nacht.
Lange begegnete er dem Blick der jungen Frau, als der alte Mönch ihr die Nadeln entfernt und sie dicht an den Kessel mit dem Feuer gerückt war. Sie wollte mit Sisya reden, stellte ihm Fragen. Aber er verstand sie nicht.
Da lächelte sie. Und noch niemals zuvor hatte Sisya jemand lächeln gesehen. Er lächelte zurück. Und dieser Augenblick schien sein Herz zu verändern.
S
ie verneigten sich tief zum Abschied am nächsten Morgen, erst vor dem alten Mönch, dann vor Sisya. Dann verließen sie den Tempel-ohne-Namen, die Eltern in übergroßer Dankbarkeit und die Tochter, die nun hoffte den Mann zurückzubekommen und irgendwann von ihm Mutter zu werden.
Sisya sah ihnen lange nach, als sie auf dem Pfad gegenüber langsam nach oben strebten und er sie zwischen Kieferngehölz und Nebelschwaden schließlich aus dem Blick verlor.
Du bist ein Bhikkhu, sagte der alte Mönch, der Sisya beobachtet hatte. Ein Bhikkhu vermeidet es, eine Frau zu sehen, und wenn er sie sieht, vermeidet er es mit ihr zu sprechen. Du hast also Recht getan zu schweigen.
Sie sprach etwas, was ich nicht verstand, sagte Sisya.
Diese Leute aus der Welt hinter dem Berg sprechen Japanisch.
Wir sind auch Japaner, sagte Sisya. Du, Meister, und auch ich.
Aber wir sind Mönche und wir sprechen die heilige Sprache des Pali, die auch die Sprache des Erleuchteten ist.
Du hast mit ihnen gesprochen, Meister.
Ich erinnere mich an ihre Sprache, die auch meine Sprache war, bevor ich ein Bhikkhu wurde. Und wenn es nötig sein wird, wirst auch du diese Leute verstehen, wenn du sie heilst und sie segnest. Denn vieler Worte bedarf es da nicht.
Und der alte Mönch fuhr nach einer langen, gedankenvollen Pause fort: Als ein Bhikkhu, so sagt uns der Buddha, lebst du als ein unbeflecktes Blatt des Lotus, auch wenn dieser aus dem Schlamm wächst.
Als ein Mönch unter dem Eid, als ein Samana, betrachte eine Frau, so sie alt ist, als deine Mutter, wenn sie jung ist, als deine Schwester, wenn sie sehr jung ist, als deine Tochter. Ein Samana, der eine Frau als Frau betrachtet oder gar berührt, bricht seinen heiligen Schwur.
So sprach der alte Mönch und wandte sich ab. Er ließ Sisya mit seinen Gedanken allein, denn der hatte weder eine Mutter noch eine Schwester gehabt, noch je einen Schwur geleistet.
Als er später in seinen Berg eindrang, die Fackel in der Hand und den Wassersack geschultert, überfiel ihn eine große Traurigkeit. Er begriff, welches Leid der Buddha meinte, das es durch Entsagung zu überwinden galt. Aber er sah keine Notwendigkeit der Entsagung, auch keinen Grund, das Leid zu überwinden, das ihm so seltsam und geheimnisvoll Schmerzen bereitete.
Als er auf den Felsen einschlug, tat er es mit so ohnmächtigem Zorn und mit solcher Gewalt, dass er ganz plötzlich schwach wurde, auf die Scherben und Splitter niedersank und weinte.
Er hatte etwas verloren, das er nicht kannte und niemals mehr wiederfinden würde.
Er wusste nicht mehr, ob er den Berg öffnen wollte für andere, oder für sich, weil er ihn gefangen hielt, eingesperrt in ein enges Tal, wo doch irgendwo anders Leben herrschte.
Und wo er doch auch nur ein einziges Leben hatte, das sich mit dem Leben dort draußen verbinden wollte.
Es war fast dunkel, als er aus der Höhle wankte, den Schutt zu dem übrigen warf und den schmalen Bach durchschritt.
In der Mitte blieb er stehen.
Er blickte den Pfad hinauf, der in die andere Welt zu führen schien, der Pfad, auf dem die Fremden an diesem Morgen das Tal verlassen hatten.
Er hätte fliehen können.
Er konnte den Wassersack füllen und die zwei, drei Tage, hinüber zur anderen Seite, die würde er schaffen.
Unschlüssig verharrte er im vorüberfließenden Wasser.
Da sah er den alten Mönch dort oben stehen, die Öllampe in der Hand. Er wurde erwartet, und es war heute später als sonst.
Da stieg er die schmalen Tritte hinauf, diese zweiunddreißig in den Felsen geschlagenen Stufen.
Hinauf zum Tempel-ohne-Namen, der seine Heimat war in dieser kleinen Welt.
Seine einzige Heimat.
Aber die geheime Traurigkeit, einmal erfahren, einmal erspürt, sollte ihn nie wieder verlassen.
E
s war ein klarer, kalter Wintertag. Die schneebedeckten Gipfel reflektierten mit Purpurglanz die Strahlen einer fernen, niedrigstehenden Sonne jenseits aller Berge.
Der Bach war fast vollständig von Eis bedeckt und das Wasser suchte sich darunter mühsam seinen Weg.
Sisya trat aus seiner feuchtwarmen Höhle, die nun schon fast tausend Schritte tief in den Berg reichte und bedeckte mit seinen schrundigen, mit blutigen, schmutzigen Tuchfetzen umwickelten Händen seine Augen. So sehr blendete ihn das unendliche Weiß dieser erstarrten Kristallwelt.
Und die Kälte, die ihn mit Nadelstichen umfing und erschauern ließ, nahm ihm fast den Atem, der vor seinem Mund gefror.
Er war aus der Tiefe des Berges nach draußen geeilt, da ihn eine seltsame, schreckliche Ahnung ganz plötzlich und unvermittelt überfallen hatte.
Er blickte hoch zum Tempel-ohne-Namen, den die Bergdohlen hungrig umkreisten.
Seine Unruhe schien grundlos, zumindest unerklärlich, und die Hast, mit der er die zweiunddreißig vereisten, glatten Stufen nach oben eilte, meist kriechend auf Händen und Füßen, kam aus einer offenbar sinnlosen Panik.
Er fand den alten Mönch aufrecht sitzend vor dem Bildnis des Buddha in scheinbar tiefer Meditation.
Meister...
!
Er flüsterte, er rief. Aber der Meister blieb stumm.
Als Sisya ihn berührte, fiel dieser nach vorn. Stumm und steif und mit geschlossenen Augen.
Sisya beugte sich über ihn, fasste nach seinem Puls, horchte auf seinen Atem.
Vergeblich.
Dieses Leben hatte den alten Mönch für immer verlassen. Plötzlich. Überraschend. Ohne Vorzeichen. Ohne Krankheit. Ohne sichtbares, erkennbares Leiden.
Sein Karma war bereits auf dem langen Weg ins Nirwana, denn Sisya war sicher, dass der alte Mönch ein Erleuchteter war, ein Erlöster, der seinen Weg an diesem Tag zu Ende gegangen war.
Noch ehe es dunkel wurde sammelte Sisya abgestorbene Kieferstämme und verdorrte Äste und bereitete den Leichnam auf die Kremation vor, die nicht weit vom Eingang seiner Höhle entfernt stattfinden sollte: so, wie es das Gesetz ihm befahl.
Er schleppte den asketischen Körper des Toten, der ihm gewichtslos erschien, die zweiunddreißig Stufen hinunter zur Sohle des Tals, schichtete das Feuerholz auf, legte den alten Mönch hoch oben auf ein Bett aus dürrem Reisig und entzündete den Scheiterhaufen mit einer Fackel, mit dem ewigen Feuer also, das im Kessel vor dem Buddha Tag und Nacht und seit Anbeginn brannte.
Ein Funkenregen stieg auf zum nächtlichen Himmel und vermischte sich mit dichtem, grauen Rauch, der den Leichnam vor Sisyas Blicken verbarg
Da wurde ihm bewusst, dass er nun allein war.
Allein in diesem Tal, allein in diesem Tempel, allein mit seinem Gelübde und mit seiner Arbeit.
Kein lehrendes Wort mehr. Keine Autorität mehr über ihm.
Kein Rat. Kein Widerspruch. Nur noch stumme, wortlose Einsamkeit.
Sisya saß eine Nacht lang in bitterer Kälte vor den niederbrennenden Flammen, vor der langsam verlöschenden Glut.
Was blieb von der Existenz des weisen Mannes war unvergängliche Erinnerung und Asche, die der Morgenwind verwehte.

J
etzt hätte Sisya frei sein können von allen Pflichten.
Hätte sich aufmachen können um auf einem tief verschneiten, unbekannten Pfad das Tal zu verlassen.
Unendliche, grenzenlose, verwirrende Freiheit.
Aber was ist das schon? Was bedeutet es?
Und was bedeutet es ihm?
Jetzt war er das Gesetz.
Jetzt war das Gesetz in ihm. Und nirgendwo sonst.
Keine Macht war mehr über ihm.
Keine Unterordnung. Keine Unterwerfung. Keine Überwachung. Keine Prüfung. Keine Beachtung.
Kein Befehl mehr, der zu befolgen wäre.
Seine Freiheit war die Erfüllung einer Pflicht, die er mit der Annahme seiner Existenz eingegangen war.
Er allein hatte nun darüber zu befinden, was gut ist und richtig und was falsch und von Übel.

Der Buddha aber sagt:
Wer das Falsche tut oder denkt,
das Böse, das Üble,
für den gibt es keinen Platz
sich zu verbergen,
nicht in der Mitte des Meeres,
nicht in den entferntesten Klüften
der Berge.
Das Falsche, das Üble und Böse

wird ihn einholen.


D
ie Arbeit tief im Berg verrichtete Sisya nach dem Tod des alten Mönchs wie im Trance. Zweitausend Schritte war er nun vom Eingang entfernt. Die Luft, die er atmete, war stickig und schwül. Der Rauch der Talgfackel zog nicht ab und der Staub verklebte ihm die Augen. Und eisiges Wasser, das durch die Felsen gesickert war, fiel auf ihn nieder.
Mühsam schleppte er den Schutt nach draußen, schöpfte Atem und taste sich wieder hinein in die Beengung, die wie ein Kerker war.
Jeder, so hatte ihn der alte Mönch gelehrt, hat im Diesseits seinen Teil zu tragen und sein ihm auferlegtes Tun zu verrichten. Es gibt kein Entkommen. Weder hier in diesem Tal, das er ein Tal des Friedens nannte, noch jenseits des Berges, wo das Leben hart war und die Entbehrung die Menschen offenbar krank macht.
Was wusste er schon vom Leben hinter dem Berg, dem er mit jedem Schlag, mit jedem Fußbreit, den er dem Felsen entriss, näher kam.
Die Zeit verflog, die Tage, die Nächte, die Jahre in ihrem Gleichmaß. Die Bestellung der Felder, die Ziegenherde, Brot, das gebacken wurde, Gebete und Meditation und die Arbeit im Felsen.
Aber: Was ist schon Zeit?
H
inter dem Berg wütete, von ihm unerkannt, das Böse, das Üble, die Aggression.
Japaner annektierten die chinesische Mandschurei, besetzten Korea, entfesselten einen Brand in diesem Teil der Welt, den erst ein Feuer, heller als tausend Sonnen, zum Verlöschen brachte.
Als alles verloren war, verkündete ein gottgleicher Kaiser die größte, anzunehmende Schmach für sein leidendes, besiegtes Volk, die bedingungslose Unterwerfung.
Während auf Straßen und Plätzen über tausend Lautsprecher die bis dahin nie vernommene, leise Stimme seiner Göttlichkeit ertönte, in einer höfischen Sprache, die keiner so recht verstand, kündeten hier und dort und von überall her weit über tausend Pistolenschüsse vom öffentlichen Freitod entehrter Offiziere.
Einige Monate lang hatte Sisya am Tag und auch am Abend, wenn er die Höhle verließ, verwundert Schwärme von silbernen, metallischen Vögeln beobachtet, die über die Berge zogen, weiße, dünne Wolkenbänder hinter sich herziehend.
Nachts hörte er, wenn das Jaulen des Bergwinds bisweilen verstummte, das tiefe, gefährlich klingende Brummen dieses für ihn so unerklärlichen Phänomens.
Er ahnte nicht, wieviel Verhängnis, wieviel Tod und Vernichtung diese Silbervögel über sein Land hinter den Bergen brachten, und auch nicht, was sein eigenes Land, geblendet von Macht, anderen Völkern zufügte, an Leid und Schmerz, Tod und Vernichtung.

Der Buddha aber sagt:
Sei nicht erzürnt über die Fehler,
Sünden und Unterlassungen anderer
oder gar ihrer Verbrechen.
Nur deine eigene Schuld,
deine eigenen Missetaten
sollten dir Sorge bereiten.


E
r wurde sichtlich alt, dieser Sisya, dieser Schüler und Mönch.
Er spürte es, wie die Kraft ihn langsam verließ. Wie die Hände ständig schmerzten, die Gelenke, auch nachts.
Und wie seine Füße oft nur noch mühsam über den nur schroff ausgeschlagenen, unebenen Boden der Höhle ihren Weg fanden, schleppend, Schritt um Schritt. Durch eisiges Wasser, das sich in Gruben und Senken gesammelt hatte. Über scharfkantigen Schutt, der ihn straucheln ließ und verletzte. In dieser bedrückenden, von beißendem Rauch geschwängerten Dunkelheit, der er nur tastend entkam, wenn das Tagwerk ihn entließ.
Die Arbeit ging nur noch zögernd voran, und sie fand kein Ende. Ob er das Ziel je erreichte, und ob ein anderer das Werk fortführen und vollbringen würde, wenn es ihm nicht vergönnt war, das waren Überlegungen und Gedanken, die er sich nicht erlaubte.
 
Laotse sagt im Dao de Ching:
Leicht beginnt stets,
was einstmals schwer wiegen wird.
Klein beginnt stets,
was einstmals groß sein wird.

A
ls die Fackel zu Boden fiel und verlöschte, war er am Ende. Sisya fühlte sich krank und kraftlos und entmutigt.
Die Schwärze, die ihn umgab, diese absolute Finsternis, diese unendliche Verlorenheit inmitten seines eigenen Werkes, raubte ihm jegliche Hoffnung, jeglichen Lebensmut.
Er sank zu Boden und schloss die Augen. Er hatte sein eigenes Grab in den Felsen geschlagen, ein gewaltiges, monströses Grab, zu gewaltig und zu monströs für einen einfachen Mönch, der sein Leben einem fremden Gelübde geopfert hatte, der seine Pflicht getan hatte, wie jeder andere auch.
Er öffnete die Augen und er sah das Licht einer Fackel, die näher kam, immer näher, und sie blendete ihn.
Der alte Mönch stand schließlich aufrecht über ihm und seine Worte klangen wie ein geheimer Befehl. Es waren die Worte des Laotse, und ihr Echo dröhnte durch die Höhle wie das Beben des Berges:
Wenn du einen Weg gehst,
geh ihn zu Ende.
Wenn du ein Werk beginnst,
bring es zu Ende.
Wenn du einen Gedanken hast,
denk ihn zu Ende.
Umzukehren vor dem Ziel,
einen Gedanken zu verlieren,
ein Werk nicht vollenden,
wird deinen Mut erlahmen lassen
für alle Zeit.

D
er alte Mönch schleuderte die Fackel gegen den Berg. Und der Felsen wich zurück. Das Feuer erleuchtete einen Raum von nur wenigen Schritten. Der Berg brach auf und gleißende Helligkeit, überstrahlendes Tageslicht, blendete Sisya, und zeigte ihm, dass er dicht vor dem Ziel war.
Die Fackel erlosch, der Berg schloss sich wieder, und Sisya stand auf, tastete sich aus der Höhle in absoluter Finsternis, benommen, zögernd, strauchelnd, wiederum Schritt um Schritt, den weiten Weg zurück, bis er den Eingang erreichte.
Ein Sommertag ging zu Ende mit lauer Luft und dem Duft von tausend Blüten. Wo er doch am frühen Morgen seinen Weg durch Eis und Schnee genommen hatte, als er sein Werk begann und die Höhle betrat.
Da machte er sich, da er die Botschaft erhalten hatte, bereit für den endgültigen Sieg.
T
age, oder auch Wochen später, brach der Berg über ihn herein. Erst stürzten die Felsbrocken, die er gelöst hatte, ihm entgegen. Schon folgten andere nach, die ihn fast erschlugen. Sand rutschte nach und Geröll.
Es roch nach feuchter Erde.
Wasser tropfte auf ihn nieder und ein plötzlicher Windstoß kam von irgendwo her und betäubte ihn mit einem unbekannten, giftigem Dunst und Brodem.
Dann sah er das Licht.
Ein Spalt erst, eine Kluft, hoch über ihm. Mit Tränen in den Augen, fast blind, schlug er weiter auf den Felsen ein.
Mehr Schutt und Geröll rutschten nach.
Der fremde Geruch wurde stärker, auch der Wind der hereindrückte, ihm Staub und Erde ins Gesicht trieb und ein seltsames, dumpfes Dröhnen mit sich brachte.
Eine Stunde verbissene, hektische Arbeit folgte.
Eine unmenschliche Anstrengung. Hektisches Tun. Dann war die Öffnung groß genug und Sisya kroch ins Freie.
Dort blieb er liegen, atmete schwer und suchte verzweifelt nach dem erlösenden Gedanken, dass er es geschafft hatte.
Dass er am Ziel war. Und dass er kein weiteres mehr hatte.
Ein Gedanke, der sich nicht einstellen wollte.
Denn eine ungeheure Leere tat sich vor ihm auf, wo er doch tiefe Befriedigung erwartet hatte.
War das der Augenblick eines Triumphs?
War das das Leid, das einer Tat wie dieser zwangsläufig folgen musste, da ihr Sinn sich ihm so schnell nicht erschloss?
Sisya sah sich um.
Erst jetzt wurde ihm das dumpfe Dröhnen bewusst, das ihn von allen Seiten umgab, das ihn einhüllte, das ihn umfing, fremd und gefährlich, beunruhigend und mit jenem Dunst vermischt, den er bereits in der Höhle feindlich empfunden hatte:
Luft und Lärm einer fremden Welt.
Er hatte sich nie ein Bild gemacht, von dem, was er drüben, jenseits des Berges, vorfinden würde.
Er hatte keinerlei Erwartungen, keinerlei Träume, keinerlei Vorstellungen von dem, was der alte Mönch ‘das Leben dort drüben’ nannte.
Nun lag es vor ihm:
Ein weites Tal. Zugesiedelt von Bauwerken aller Art und jeglicher Form und Höhe. Überspannt von Drähten. Überragt von Türmen und Masten aus Metall.
Zwischen ihm und den Ansiedlungen gähnte ein Abgrund.
Unter ihm dehnte sich ein breites, langes, helles Band, dessen Anfang er nicht sehen konnte und auch nicht dessen Ende.
Auf diesem Band bewegten sich Fahrzeuge in rasender Geschwindigkeit hin und her.
Er konnte das Rätsel nicht lösen und machte sich an den Abstieg.
Er erreichte den Highway, überquerte ihn, ohne auf das Chaos zu achten, das er verursachte.
Es wurde Abend, und an den Fassaden einer Ladenstraße funkelten die Lichter und Schriftzeichen, die er nicht verstand.
Güter in unmäßigem Reichtum wurden dort frei verfügbar zur Schau gestellt. Unzählige Menschen hasteten an ihm vorüber, geschäftig, emsig, manche vielleicht sogar glücklich.
Die Lust und der Wille zum Leben war allgegenwärtig, wie auch die Gier nach Gütern und Reichtum, die es doch zu überwinden galt!
Waren das hier die Menschen, für die er den Weg durch den Berg geschlagen hatte?
Von dem bärtigen, hageren, alten Mann in seinem verschmutzten Gewand nahm keiner Notiz.
Er hatte längst vergessen, wo die Höhle lag, der Eingang, der Ausgang, der Ort, wo er sie kriechend verlassen hatte.
Da wusste er: er war ein Narr.
Und er wusste auch: es gab keinen Weg zurück!

Der Buddha aber sagt:
Der Narr, der seine Narretei erkennt,
ist wahrlich ein weiser Mann!


N
ein, Sisya war kein Narr und kein Weiser.
Jeder von uns gräbt sich seinen Weg durch den Berg.
Ein Leben lang.
Fremdbestimmt.
Oder aus eigener Entscheidung.
Kaum einer vollendet ihn.
Vielleicht sind wir alle Narren.
Aber nur der Narr, der sich für weise hält,
so sagt der Buddha,
ist fürwahr ein Narr!
 

"The Teaching of Buddha" & "Laotse Dao de Ching"
by courtesy of Buddhist Monastery, Perth, Western Australia.
Aus dem Sanskrit frei übertragen durch den Autor.